Die Tunschere

Die folgende Beschreibung des Tunscherenbrauchs ist entnommen aus einem Hümmlinger Heimatbuch aus dem Jahr 1928 und wurde von einem W. Heermann verfasst..

Die Tunschere.

Während die Herstellung einer Wärpelraut nur wenig Geschicklichkeit im Falten und Schneiden des bunten Papiers erfordert, ist die Anfertigung einer Tunschere nicht jedermanns Sache.

Tunscheren aus den Zwanziger Jahren mit "Krüllen"In Werlte wohnt der "Tunscherenkerl", der die Tunschere mit großer Geschicklichkeit herstellt und zwischen Weihnachten und Dreikönigen von Dorf zu Dorf zieht, bis er die letzte aus seiner Kiepe verkauft hat. Schauen wir ihm einmal zu, wenn er in seiner Werkstatt eifrig bei der Arbeit ist. - Er nimmt 20 bis 40 Zentimeter lange, trockene Stäbchen aus dem Holze des Faulbeerstrauches und schabt mit einem recht scharfen Messer von unten bis fast nach oben haarfeine Fädchen ab. Diese rollen sich zu "Krüllen" (krüllen=kräuseln) und stehen wie die Krinolinenröcke zu urväterzeiten unten weit ab. Dann werden diese Stäbchen auf ein Brettchen von 20 bis 30 Zentimeter Länge und 10 bis 15 Zentimeter Breite befestigt. Halbkreisförmig gebogene dünne Weiden wölben sich darüber. Stäbchen und Bogen werden mit buntem Papier und Gold- oder Silberschaum umwickelt. Vier Stäbchen tragen auf der Spitze rotwangige Äpfel. Auf manchen Tunscheren stehen auch wohl mit Goldpapier geschmückte Kerzenleuchter.

Eine Tunschere kostet je nach Größe und Ausstattung 1,50 bis 5 Mark. es werden aber nicht jedes Jahr neue Tunscheren gekauft. Die zum Geschenk erhaltenen Kunstwerke werden im Glasschrank bis zum nächsten Winter sorgfältig aufbewahrt und dann wieder ausgebracht.

Am Abend vor Dreikönigen tragen die Kinder die Tunschere zu Verwandten, Freunden und Nachbarn. Unterwegs singen sie:

"Stern, du mußt nicht stille stahn,
Sollst mit uns nach Bethlehem gahn;
Bethlehem ist die heil'ge Stadt,
Wo Maria und Joseph mit dem Kindlein Jesu satt."

Beim Betreten des Hauses grüßt die ganze Schar:
"Guten Abend, mine heeren!
Wi wull'n Jou wall 'n Tunschere verehren.
Latet us nich lange stahn,
Wie mött' noch'n Hüsken wiedergahn!"

Tunscheren-BringerZur Belohnung bekommen alle drei Neujahrskuchen und ein riesengroßes Butterbrot.

Die Famile ist am Abend um das Herdfeuer versammelt. Die jüngeren Kinder ruhen schon in ihren warmen Betten. Der älteste Sohn des Hauses rutscht unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er ist auffallend suaber gekleidet. Vater und Mutter werfen sich bedeutsame Blicke zu. Sie haben nichts dagegen, daß ihr Gerd ein Auge auf Jans Trina geworfen hat. Heute will er die Entscheidung herbeiführen. Er nimmt die feinste Tunschere aus dem Schranke und eilt durch die kalte Abendluft zum Hause der Erwählten. Leise öffnet er die Tür, stellt die Tunschere auf einen Stuhl und verschwindet wieder. Alles stürmt ihm nach, um den "Eindringling" zu erhaschen. Er wird erwischt - eben dieses will er - und im Triumph in die beste Stube geführt. Man zündet die große Kuppellampe an und schließt sorgfältig die Vorhänge, damit kein Unberufener durchs Fenster schauen kann. Nun wird gegessen und getrunken bis in die Nacht heinein. Beim Scheiden muß Gerd versprechen, morgen wiederzukommen. er nimmt die Einladung gern an, weiß er doch nun, daß seine Bitte um Trinas Hand nicht vergeblich sein wird.

"Tunscherenkerl is dot", und mit ihm ist auch die alte Sitte des Austragens der Tunschere zu Grabe getragen worden. In einigen Häusern erinnert noch in einer Ecke der Anrichte ein solches Schmuckstück, ganz vergilbt und verstaubt, an frühere Dreikönigsabende.

jdm