Mini-Jobs als Job-Killer - von Peter Bofinger
Aus der Süddeutschen Zeitung vom 12.12.2002

Außenansicht

Mini-Jobs als Job-Killer

von Peter Bofinger

Auf den ersten Blick sieht es durchaus verlockend aus, was die Bundesregierung jetzt als Kompromiss für die Reform des Arbeitsmarktes vorgeschlagen hat: Die Grenze für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse soll von 325 Euro auf 390 oder sogar 420 Euro angehoben werden. Sozialabgaben in Höhe von 22 Prozent werden nur vom Arbeitgeber gezahlt, die Besteuerung auf pauschal 10 Prozent begrenzt. Für haushaltsnahe Dienstleistungen entfällt die Besteuerung ganz, die Sozialabgaben belaufen sich auf nur 10 Prozent, der Arbeitgeber kann einen Teil des Lohns auch noch von seiner Steuerschuld abziehen. Außerdem soll das Gesetz über die Scheinselbstständigkeit abgeschafft oder zumindest gemildert werden. Mit diesem Maßnahmenpaket verbindet sich die Hoffnung, dass neue Arbeitsplätze geschaffen und Jobs aus der Schwarzarbeit an das Tageslicht gefördert werden. Dahinter steht die einzelwirtschaftliche Logik, wonach die Nachfrage nach Arbeit steigt, wenn man deren Preis, der sich aus Bruttolohn und Sozialabgaben zusammensetzt, reduziert.

Nun ist es jedoch bei vielen volkswirtschaftlichen Fragen so, dass sich die für einen Einzelnen geltenden Zusammenhänge in ihr Gegenteil verkehren können, wenn man sie unter gesamtwirtschaftlicher Perspektive betrachtet. Bei einem so komplexen Gebilde wie der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik gilt diese ökonomische Vorsichtsregel ganz besonders.

Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive muss man zunächst einmal die Beschäftigungsentwicklung seit der deutschen Vereinigung betrachten. Von 1991 bis 2001 ist die Zahl der Vollzeitbeschäftigten um 11 Prozent zurückgegangen. Dagegen haben die von Sozialabgaben ganz oder teilweise befreiten Beschäftigungsformen erheblich zugenommen. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten ist um 44 Prozent gestiegen, die der Selbstständigen ohne einen Beschäftigten, eine Vorform der Ich-AG, um 32 Prozent. Damit ist der Anteil der Vollbeschäftigten an den gesamten Erwerbstätigen um acht Prozentpunkte auf nur noch 70 Prozent gesunken. So gesehen besteht also schon jetzt ein klarer Trend weg vom Vollzeitarbeitsplatz hin zu den Mini-Jobs und der Scheinselbstständigkeit.

Hier muss man nun eine zweite Strukturveränderung seit 1990 sehen: Von 1989 bis heute ist die gesamtwirtschaftliche Steuerquote nahezu konstant geblieben. Demgegenüber hat sich die Sozialbeitragsquote von 15 auf rund 18 Prozent erhöht. Mit anderen Worten: Die deutsche Vereinigung ist – sieht man von der höheren Staatsverschuldung ab – vor allem über die Systeme der Sozialen Sicherung finanziert worden. Ein wesentlicher Teil der Mitglieder der gesetzlichen Renten- und Krankenversicherung zahlt Beiträge, die deutlich höher sind als die zu erwartenden Leistungen. Es findet in diesen Systemen also eine verdeckte Besteuerung statt.

Daher kann man die abnehmende Zahl der Vollzeitbeschäftigten damit erklären, dass viele Beschäftigte und Arbeitgeber nach Wegen gesucht haben, sich dieser Belastung zu entziehen. In der volkswirtschaftlichen Theorie hat der Nobelpreisträger Ronald Coase bereits 1937 dargelegt, dass man die Arbeitsteilung nicht nur im Rahmen eines hierarchisch strukturierten Unternehmens mit langfristigen Arbeitsverträgen organisieren muss. Es gibt stets die alternative Lösung des „Marktes“, also einer Form der Arbeitsteilung auf der Basis kurzfristiger Kauf- oder Werkverträge. Welche der beiden Varianten gewählt wird, hängt vor allem von den Transaktionskosten ab. Die Besteuerung der Vollzeitbeschäftigung durch Sozialabgaben hat die Transaktionskosten der Alternative „Unternehmen“ erheblich zu Lasten der Variante „Markt“ erhöht, so dass die Vollzeitbeschäftigung gegenüber anderen Erwerbsformen an Wettbewerbsfähigkeit verloren hat. In diesem Zusammenhang trifft heute der verbreitete Verdacht uneingeschränkt zu: "Die Arbeit" ist zu teuer geworden.

Bei der anhaltenden Erosion des traditionellen Arbeitsverhältnisses wird die Grundlage für Beiträge im System der sozialen Sicherung immer geringer: Die Menschen weichen der Besteuerung aus. Notgedrungen hat die Politik auf diese Ausweichprozesse mit höheren Abgabesätzen reagiert, womit jedoch der Anreiz zur Umgehung noch weiter zunimmt. Wenn man den Kompromiss zu den Mini-Jobs vor diesem Hintergrund betrachtet, trägt die Bundesregierung letztlich dazu bei, dass den Privaten zusätzliche Möglichkeiten geboten werden, mit denen sie sich der impliziten Besteuerung durch die Sozialen Sicherungssysteme entziehen können. Damit sind weitere Abgabenerhöhungen programmiert.

Konkret wird eine Ausweitung der Mini-Jobs dazu führen, dass es im Dienstleistungssektor kaum noch voll versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse geben wird, da sie erheblich teurer sind als die Mini-Jobs. In einer Welt, die durch den Strukturwandel von der Industrie zu Dienstleistungen geprägt wird, ist dies besonders problematisch. Wer heute seinen Vollzeit-Arbeitsplatz in der Industrie verliert, ist kaum mehr in der Lage, eine äquivalente Beschäftigung im tertiären Sektor zu finden. Mit der jetzt ins Auge gefassten Lösung wird diese spezifische Ursache von Arbeitslosigkeit noch weiter zunehmen.

Es gibt keinen Zweifel: Trotz ihrer Popularität in allen politischen Lagern sind die Mini-Jobs ein Job-Killer ersten Ranges. Die Regierung wäre gut beraten, in einem so komplexen Terrain wie der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik auf Schnellschüsse zu verzichten. Statt dessen sollte sie sich darum bemühen, ein umfassendes ordnungspolitsches Leitbild zu entwickeln. Dabei wäre insbesondere die Frage zu stellen, ob es sinnvoll ist, Wohlstand weiterhin über die Sozialversicherungen umzuverteilen. Aus ökonomischer Sicht spricht alles dafür, die staatliche Verteilungspolitik auf das Steuersystem zu konzentrieren, das diese Aufgabe effizienter und transparenter wahrnimmt als die dafür gar nicht konzipierten sozialen Sicherungssysteme. Bei einer nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung ausgestalteten Renten- und Krankenversicherung würden die Anreize zum Umgehen des Vollzeitbeschäftigungsverhältnisses weitgehend entfallen.

Eine wichtige Implikation des Aquivalenzprinzips besteht zudem darin, dass es für verheiratete Frauen nicht mehr selbstverständlich wäre, dass sie ihre Soziale Sicherung zum Nulltarif erhalten. Diese Facette des Status quo ist eine Mitursache für die Erosion von Vollzeitarbeitsplätzen: Verheiratete Frauen, die ihre Kranken- und Rentenversicherung über den Ehemann beziehen, können heute mit den Mini-Jobs erfolgreich Männer und ledige Frauen verdrängen, die diese Absicherung benötigen, aber deshalb für den Arbeitgeber zu teuer sind. Bei einer eigenständigen Versicherungspflicht für verheiratete Frauen würde auch die Bemessungsgrundlage der Sozialversicherungen erheblich verbreitert, wobei für Frauen mit Kindern spezifische Lösungen gefunden werden müssen. Als längerfristiges Ziel könnte ein äquivalent gestaltetes Soziales Sicherungssystem völlig von der Art des Beschäftigungsverhältnisses gelöst werden. Die Mini-Jobs, die es in dieser Form nur in Deutschland gibt, würden damit völlig entbehrlich.

Fazit: Wenn eine Volkswirtschaft in schweres Wasser gerät, sollte die Schiffsbesatzung nicht nur aus Juristen und Lehrern bestehen. Da heute niemand mehr am Ruder steht, der es gelernt hat, gesamtwirtschaftlich zu denken, darf man sich nicht wundern, dass ein klarer Kurs nicht mehr zu erkennen ist.

Prof. Dr. Peter Bofinger lehrt Volkswirtschaft an der Universität Würzburg. Er gehörte zu den profiliertesten Befürwortern des Euro unter den deutschen Ökonomen.


top

Zur Homepage