Kassen wehren sich gegen höhere Steuer auf Sondennahrung - aus der Süddeutschen Zeitung vom 18.09.2003

Süddeutsche Zeitung vom 18.09.2003

Morbus Mehrwert

Kassen wehren sich gegen höhere Steuer auf Sondennahrung


Ein Irrtum, dachte man bei den Krankenkassen: Ohne dass sich die Rechtslage in irgendeiner Form verändert hatte, mussten sie vom 1. Juli an für flüssige Sondennahrung statt bisher sieben Prozent Mehrwertsteuer 16 Prozent bezahlen. Dies war genau in der Zeit, in der Regierung und Opposition in seltener Einigkeit zusammensaßen, um das marode Gesundheitssystem zu sanieren; jede Million Euro, die für die defizitären Kassen gespart werden konnte, schien wichtig zu sein. Heute wissen die Kassen, dass kein Irrtum vorlag: Diese Erhöhung der Mehrwertsteuer wurde vorgenommen und sie bedeutet für sie zusätzliche Kosten in Höhe von 45 Millionen Euro pro Jahr.

Gegen diese stillschweigende Anhebung der Mehrwertsteuer für Sondennahrung, die vom Finanzministerium zusammen mit der Oberfinanzdirektion Cottbus ausging, wollen sich die Kassen jetzt wehren. Es geht dabei nicht nur um viel Geld. Die Kassen finden es auch unfassbar, wie zynisch Ministerium und Behörden mit 120 000 Menschen umgehen, die auf Sondennahrung angewiesen sind: Patienten, die im Koma liegen, an Krebs, Morbus Crohn oder Leberzirrhose leiden, Kranke, die nicht schlucken können, alte Menschen, die zu wenigessen und in einem schlechten Zustand sind. In diesen Fällen zahlen die Kassen für Sondennahrung 500 Millionen Euro im Jahr, und sie sagen, dass sie dies voller Überzeugung zahlen.

„Sondennahrung ist ein Lebensmittel“, sagt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin, Herbert Lochs. Als solches war sie steuerlich eingestuft, mit dem für Lebensmittel ermäßigten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent, der zum Beispiel auch für Milch gilt. Im Finanzministerium aber hat man eine andere Definition gefunden. „Flüssige Lebensmittelzubereitungen, zu denen auch zubereitete Trink- und Sondennahrung gehört,“ so erklärte der Parlamentarische Staatssekretär Karl Diller, „sind im Allgemeinen als Getränk anzusehen“ – für Getränke, die zum Genuss bestimmt sind, gilt der Satz von 16 Prozent. Mit einem einzigen Federstrich wurde aus der lebensnotwendigen Nahrung für Schwerstkranke ein Genussgetränk.

„Diese Einstufung ist absurd“, sagt der Medikamenten-Experte der AOK, Robert Stork. 99 Prozent aller Sondennahrung werden plötzlich als Getränk besteuert, „auch solche, die nicht trinkbar ist“, meint Joachim Odenbach, Sprecher der Innungskrankenkassen. Ein Verschiebebahnhof für 45 Millionen Euro pro Jahr sei das. „Wir sollen die Kassen der Finanzbehörden füllen“, sagt er. Die Firmen, die sich gegen die Finanzämter nicht wehren könnten, reichten die höhere Mehrwertsteuer weiter. Die Krankenkassen wollen nun gemeinsam die Gerichte anrufen und eine Grundsatzentscheidung herbeiführen.

Das Finanzministerium hat bisher eine öffentliche Diskussion vermieden. So sollte sich der Bundesrat auf Antrag von Hessen bereits im November 2001 mit dem Thema befassen. Der Finanzausschuss empfahl die Einstufung als Getränk, Agrar- und Gesundheitsausschuss wie auch Hessen waren dagegen – und der Punkt „Sondennahrung“ war schnell von der Tagesordnung verschwunden.

Heidrun Graupner

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