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Zur Aktualität eines Begriffs

Prekarität ist überall

VON PIERRE BOURDIEU


Es ist deutlich geworden, dass Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist. Im privaten, aber auch im öffentlichen Sektor, wo sich die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitstellen vervielfacht hat; in den Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen der Produktion und Verbreitung von Kultur, dem Bildungswesen, dem Journalismus, den Medien usw. Beinahe überall hat sie identische Wirkungen gezeigt, die im Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage treten: die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit. Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen lässt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allem jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.

Zu diesen Folgen der Prekarität für die direkt Betroffenen gesellen sich die Auswirkungen auf die von ihr dem Anschein nach Verschonten. Doch sie lässt sich niemals vergessen; sie ist zu jedem Zeitpunkt in allen Köpfen präsent (ausgenommen den Köpfen der liberalen Ökonomen, vielleicht deshalb, weil sie - wie einer ihrer theoretischen Gegner bemerkte - von dieser Art Protektionismus profitieren, den ihnen ihre tenure, ihre Beamtenstellung verschafft und die sie der Unsicherheit entreißt). Weder dem Bewusstsein noch dem Unterbewussten lässt sie jemals Ruhe. Die Existenz einer beträchtlichen Reservearmee, die man aufgrund der Überproduktion von Diplomen längst nicht mehr nur auf den Qualifikationsebenen findet, flößt jedem Arbeitnehmer das Gefühl ein, dass er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewissermaßen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohtes Privileg (daran erinnern ihn zumindest seine Arbeitgeber bei der geringsten Verfehlung und die Journalisten und Kommentatoren jeglicher Art beim nächsten Streik). Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hochentwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind. Diese Art "kollektive Mentalität" (ich gebrauche diesen Begriff hier zum besseren Verständnis, obwohl ich ihn eigentlich nicht gern verwende), die der gesamten Epoche gemein ist, bildet die Ursache für die Demoralisierung und Demobilisierung, die man in den unterentwickelten Ländern beobachten kann (wozu ich in den 60er Jahren in Algerien die Gelegenheit hatte), die unter sehr hohen Arbeitslosen- und Unterbeschäftigungsraten leiden und permanent von der Angst vor Arbeitslosigkeit beherrscht werden.

Das "Prekariat"

Pierre Bourdieu (1930-2002), der mit "Die feinen Unterschiede" und "Das Elend der Welt" zwei Klassiker der soziologischen Literatur hinterlassen hat, machte früh auf das nun in aller Munde befindliche "Prekariat" aufmerksam. Der Text ist ein Auszug aus einem Vortrag, den Bourdieu im Dezember 1997 in Grenoble gehalten hat. Er ist abgedruckt in: "Gegenfeuer. Wort- meldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion", UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2004.


Arbeitslose und Arbeitnehmer, die sich in einer präkeren Lage befinden, lassen sich kaum mobilisieren, da sie in ihrer Fähigkeit, Zukunftsprojekte zu entwerfen, beeinträchtigt sind. Das ist jedoch die Voraussetzung für jegliches so genanntes rationales Verhalten, angefangen beim ökonomischen Kalkül oder, in einem völlig anderen Bereich, der politischen Organisation. Paradoxer Weise muss man - wie ich in meinem frühesten und vielleicht zugleich aktuellsten Buch über Arbeit und Arbeiter in Algerien gezeigt habe - wenigstens ein Minimum an Gestaltungsmacht über die Gegenwart haben, um ein revolutionäres Projekt entwerfen zu können, denn letzteres ist immer ein durchdachtes Bestreben, die Gegenwart unter Bezugnahme auf ein Zukunftsprojekt zu verändern. Im Unterschied zum Subproletariat verfügt der Proletarier über dieses Minimum an Gewissheit und Sicherheit, das die Grundvoraussetzung dafür ist, überhaupt die Idee in Betracht zu ziehen, die Gegenwart unter Bezug auf eine erhoffte Zukunft umzugestalten. Doch nebenbei bemerkt ist er eben auch jemand, der immerhin auch noch etwas zu verteidigen, etwas zu verlieren hat, nämlich seine auch noch so auszehrende und unterbezahlte Stelle, und viele seiner manchmal als allzu vorsichtig oder konservativ beschriebenen Verhaltensweisen rühren von der Furcht her, wieder ins Subproletariat zurückzufallen.


 




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Dokument erstellt am 17.10.2006 um 17:01:09 Uhr
Letzte Änderung am 17.10.2006 um 17:44:52 Uhr
Erscheinungsdatum 18.10.2006