Pierre Bourdieu (1930-2002), der mit "Die feinen Unterschiede" und "Das Elend der Welt" zwei Klassiker der soziologischen Literatur hinterlassen hat, machte früh auf das nun in aller Munde befindliche "Prekariat" aufmerksam. Der Text ist ein Auszug aus einem Vortrag, den Bourdieu im Dezember 1997 in Grenoble gehalten hat. Er ist abgedruckt in: "Gegenfeuer. Wort- meldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion", UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2004.
Es ist deutlich geworden, dass Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist. Im privaten,
aber auch im öffentlichen Sektor, wo sich die Zahl der befristeten
Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitstellen vervielfacht hat; in den
Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen der Produktion und Verbreitung von
Kultur, dem Bildungswesen, dem Journalismus, den Medien usw. Beinahe überall hat sie
identische Wirkungen gezeigt, die im Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage
treten: die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten
Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum
und Zeit. Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie
die Zukunft überhaupt im Ungewissen lässt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig
jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allem jenes Mindestmaß an Hoffnung und
Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so
unerträgliche Gegenwart notwendig ist.
Zu diesen Folgen der Prekarität für die direkt Betroffenen gesellen sich die
Auswirkungen auf die von ihr dem Anschein nach Verschonten. Doch sie lässt sich niemals
vergessen; sie ist zu jedem Zeitpunkt in allen Köpfen präsent (ausgenommen den Köpfen
der liberalen Ökonomen, vielleicht deshalb, weil sie - wie einer ihrer theoretischen
Gegner bemerkte - von dieser Art Protektionismus profitieren, den ihnen ihre tenure,
ihre Beamtenstellung verschafft und die sie der Unsicherheit entreißt). Weder dem
Bewusstsein noch dem Unterbewussten lässt sie jemals Ruhe. Die Existenz einer
beträchtlichen Reservearmee, die man aufgrund der Überproduktion von Diplomen längst
nicht mehr nur auf den Qualifikationsebenen findet, flößt jedem Arbeitnehmer das Gefühl
ein, dass er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewissermaßen ein
Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohtes Privileg (daran erinnern ihn
zumindest seine Arbeitgeber bei der geringsten Verfehlung und die Journalisten und
Kommentatoren jeglicher Art beim nächsten Streik). Die objektive Unsicherheit bewirkt
eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer
hochentwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter
ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen
sind. Diese Art "kollektive Mentalität" (ich gebrauche diesen Begriff hier zum
besseren Verständnis, obwohl ich ihn eigentlich nicht gern verwende), die der gesamten
Epoche gemein ist, bildet die Ursache für die Demoralisierung und Demobilisierung, die
man in den unterentwickelten Ländern beobachten kann (wozu ich in den 60er Jahren in
Algerien die Gelegenheit hatte), die unter sehr hohen Arbeitslosen- und
Unterbeschäftigungsraten leiden und permanent von der Angst vor Arbeitslosigkeit
beherrscht werden.