Deutlich mehr als die Hälfte der Menschen in der unteren Einkommenshälfte, aber auch knapp 47 Prozent in der oberen Mittelschicht fürchteten im vergangenen Jahr, ihren Lebensstandard zukünftig nicht mehr halten zu können. Zu diesen Ergebnissen kommt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Mit materiellen Einschränkungen und Zukunftssorgen geht vor allem bei ärmeren Menschen eine erhebliche Distanz zu wichtigen staatlichen und politischen Institutionen einher, zeigt die Studie zudem: Weniger als die Hälfte der Armen und der Menschen mit prekären Einkommen findet, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniert. Sie sehen für sich auch nicht die Möglichkeit, auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Rund ein Fünftel vertraut dem Rechtssystem allenfalls in geringem Maße.
Wie gleich oder ungleich die Einkommen verteilt sind, lässt sich über ein statistisches Maß ermitteln, das in der Wissenschaft häufig verwendet wird: den so genannten Gini-Koeffizienten. Der „Gini“ reicht theoretisch von null bis eins: Beim Wert null hätten alle Menschen in Deutschland das gleiche Einkommen, bei eins würde das gesamte Einkommen im Land auf eine einzige Person entfallen. Die Auswertung der neuesten verfügbaren Daten im Verteilungsbericht zeigt, dass sich der Anstieg der Ungleichheit ab 2010 weiter fortgesetzt hat – in leichten Wellenbewegungen, aber insgesamt mit eindeutiger Tendenz: 2010 lag der Gini-Wert noch bei 0,282. Bis 2021 kletterte er auf einen neuen Höchststand von 0,310.
Noch deutlicher zugenommen hat die Einkommensarmut, also die Quote der Haushalte deren bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt. Sehr arm (Fachbegriff: „strenge Armut“) sind Personen, die nicht einmal 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Für einen Singlehaushalt entspricht das maximal 1.350 (Armut) bzw. 1.120 Euro (strenge Armut) im Monat.
Schon in den 2010er Jahren stieg die Armutsquote mit gelegentlichen jährlichen Schwankungen im Trend spürbar an, und die Entwicklung hat sich beinahe kontinuierlich fortgesetzt, zeigt der Verteilungsbericht: Im Jahr 2021 lebten 17,8 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut, 11,3 Prozent sogar in strenger Armut. 2010 lagen die beiden Quoten noch bei 14,2 bzw. 7,8 Prozent. Damit ist der „Anteil der Menschen in strenger Armut – relativ – noch stärker gestiegen als die Armutsquote“, schreiben die Autoren Dr. Dorothee Spannagel und Dr. Jan Brülle.
Die Daten, die die Forschenden analysieren, machen anschaulich, dass Armut auch in einem reichen Land wie der Bundesrepublik nicht selten mit deutlichen alltäglichen Entbehrungen verbunden ist. So konnten es sich bereits 2021, also vor der großen Teuerungswelle, 9,9 Prozent der Menschen in Armut nicht leisten, abgetragene Kleidung durch neue zu ersetzen. 42,8 Prozent der Menschen in Armut und 21,3 Prozent in der „prekären“ Einkommensgruppe haben keinerlei finanzielle Rücklagen. Knapp 17 Prozent der Armen können sich Freizeitaktivitäten wie einen Kinobesuch einmal pro Monat oder den Besuch einer Sportveranstaltung nicht leisten, knapp 14 Prozent fehlt das Geld, um wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen einzuladen. Die geringeren finanziellen Teilhabemöglichkeiten lassen sich auch nicht durch engere persönliche Kontakte ausgleichen, im Gegenteil: Menschen mit sehr niedrigen Einkommen sind häufiger alleinstehend und haben nach eigener Einschätzung seltener enge Freunde.
Beim Blick auf die Zukunft reichen Abstiegsängste bis weit in die Mittelschicht hinein, und sie haben in allen untersuchten Einkommensgruppen stark zugenommen. Das zeigen die Daten aus der Böckler-Lebenslagenbefragung für die Jahre 2020 und 2023. Im vergangenen Jahr äußerten fast 55 Prozent der Menschen in Armut große oder sehr große Sorgen ihren – ohnehin sehr niedrigen – Lebensstandard nicht dauerhaft halten zu können. Ein Anstieg um rund sechs Prozentpunkte gegenüber dem schon hohen Wert von 2020. Unter den Befragten in „prekären“ Einkommensverhältnissen befürchteten 2023 sogar gut 58 Prozent, wirtschaftlich abzurutschen – 14 Prozentpunkte mehr als drei Jahre zuvor. Nur wenig kleiner ist der Anteil mit großen oder sehr großen Abstiegssorgen in der unteren Mitte: Dort betrug er 2023 knapp 52 Prozent, ein Anstieg um rund 15 Prozentpunkte. Und selbst in der oberen Mittelschicht hat sich die Verunsicherung drastisch ausgebreitet: Die Quote der Befragten mit Sorgen um den künftigen Lebensstandard stieg von knapp 32 auf knapp 47 Prozent.
Verunsicherung spiegelt sich auch in der Identifikation mit der Demokratie und mit staatlichen Institutionen wider, und das besonders bei Personen mit niedrigen Einkommen, zeigen die Ergebnisse der Lebenslagenbefragung von 2023. Zwar ist in allen untersuchten Einkommensgruppen rund die Hälfte oder mehr der Befragten der Ansicht, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniere. Aber auch hier gibt es deutliche Abstufungen zwischen den Gruppen: Lediglich knapp 50 Prozent der Armen und der Menschen mit prekären Einkommen sind mit der Demokratie im Wesentlichen zufrieden. In der unteren Mitte sind es 52 Prozent, in der oberen Mitte fast 60 Prozent. Damit korrespondiert auch die Einschätzung, ob man selbst auf die eigenen Anliegen aufmerksam machen kann: Hier steigt die Zustimmung von etwas über 44 Prozent bei den Armen auf knapp 52 Prozent in der oberen Mitte.
Eine noch größere Entfremdung vom politischen Geschehen drückt sich in der Zuschreibung aus, „die regierenden Parteien betrügen das Volk“. Die Zustimmung dazu variiert ebenfalls deutlich entlang der Einkommensgruppen: Unter den Menschen in Armut und mit prekären Einkommen halten über ein Drittel diese Aussage für zutreffend, während es bei der oberen Mitte etwas mehr als ein Viertel ist. Ein deutlicher Zusammenhang zur wirtschaftlichen Situation zeigt sich auch beim Misstrauen gegenüber der Polizei oder Gerichten, das zwischen knapp 21 Prozent unter Menschen in Armut und elf bis zwölf Prozent unter Angehörigen der oberen Mittelschicht variiert. Ähnlich ist das Muster bei der Wahlbeteiligung: Unter den Armen erklären knapp 20 Prozent, bei der nächsten Bundestagswahl nicht wählen gehen zu wollen. Mit steigendem Einkommen sinkt der Anteil der potenziellen Nichtwähler*innen – bis auf knapp elf Prozent in der oberen Einkommensmitte.
Die Befunde seien als beunruhigend, zumal der problematische Trend nun schon über viele Jahre anhalte: Wenn mangelnde materielle Teilhabe und um sich greifende Verunsicherung dazu führten, dass in den Augen vieler Menschen auch ihre politische Teilhabe brüchig werde, „hat das negative Folgen für unser demokratisches System“, warnen sie. Eine verantwortungsvolle Politik müsse auf jeden Fall darauf verzichten, verschiedene Gruppen in der Gesellschaft gegeneinander auszuspielen. Als warnendes Beispiel nennen sie die Debatte um das Bürgergeld in den vergangenen Monaten, in der die Leistungsempfänger als faul und arbeitsunwillig stigmatisiert wurden. Statt die ohnehin zu knappen Leistungen für Bürgergeldempfänger*innen weiter zu kürzen, um den Abstand zwischen Sozialleistungen und Erwerbseinkommen zu erhöhen, sei es „viel sinnvoller, Niedriglöhne wirksam zu bekämpfen und Tarifbindung zu stärken – Maßnahmen, die auch Menschen außerhalb des Grundsicherungsbezugs zugutekommen.“
Gesellschaftliche Teilhabe auch für die (untere) Mitte der Gesellschaft könne besonders durch Sozialversicherungssysteme gestärkt werden, „die eine angemessene Balance zwischen solidarischem Ausgleich und Sicherung des individuellen Lebensstandards finden“, schreiben die Fachleute. Hier gehe es etwa um ein stabiles Rentenniveau in Kombination mit einer auskömmlichen Grundrente. [PM WSI]