Streitgespräch Schröder - Stoiber Teil 2

Streitgespräch

Wer ist der bessere Darsteller?

Edmund Stoiber gegen Gerhard Schröder im Streitgespräch der Süddeutschen Zeitung: Politisch tummeln sich beide in der Mitte, persönlich sind sich beide fremd.
Moderation: Hans Werner Kilz (SZ) und Wolfram Weimar (Welt)

Schröder und Stoiber
Gerhard Schröder und Edmund Stoiber im Wortduell

(In der Süddeutschen Zeitung vom 14.8.2002)

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben bei Ihrer Amtseinführung 1998 auf den Zusatz zur Eidesformel „So wahr mir Gott helfe“ bewusst verzichtet und dies damit begründet, dass Sie mit dem Thema noch nicht fertig seien und sich noch auf der Suche befänden...

Schröder: Mit welchem Thema?

Frage: Mit dem Thema Gott, mit dem Glauben. Sind Sie inzwischen, nach vier Jahren Regierungszeit, bei Ihrer Suche etwas weitergekommen?

Schröder: Das ist ein sehr persönliches Thema. Ich halte gar nichts davon, das öffentlich auszubreiten. Es gibt Themen, die muss man für sich selber klären. Die Frage, ob man eine besondere Beziehung zu Gott hat und wenn ja, welche, ob man betet, ob man für etwas bittet, das sollte wirklich jedem Einzelnen überlassen bleiben. Deswegen bitte ich Sie einfach darum, zu respektieren, dass das meine Sache ist, nicht unser beider.

Frage: Herr Ministerpräsident, Sie werden die Vereidigungsformel, wenn sie Kanzler werden sollten, mit dem Zusatz sprechen. Sie proklamieren ein christliches Menschenbild als Grundlage Ihrer Politik. Welche der zehn Gebote sind Ihnen für den Aufbau der Gesellschaft besonders bedeutsam?

Stoiber: Für den Aufbau der Gesellschaft sicherlich die Nächstenliebe. Gerade deshalb, weil sich jeder Mensch zunächst mal intensiv um die eigenen Dinge kümmert. Wir neigen ja alle zu einem Egoismus. Ein gesunder Egoismus ist auch Wesensmerkmal einer dynamischen Gesellschaft. Aber die Solidarität ist mir besonders wichtig. Ich habe immer betont, dass ich beeinflusst bin von der katholischen Soziallehre und der evangelischen Sozialethik.

Frage: Das klingt sehr sozialdemokratisch.

Stoiber: Sozialethik ist nicht identisch mit sozialdemokratisch, Solidarität gehört nicht den Sozialdemokraten alleine. Das ist ebenso christlich-soziale Politik, das „S“ ist nicht umsonst so stark betont.

Frage: Nun stehen Nächstenliebe und Politik sehr oft in einem Spannungsverhältnis. Herr Bundeskanzler, haben Sie in Ihrem politischem Leben mal jemanden so verletzt, dass es Ihnen heute Leid tut?

Schröder: Mit Sicherheit. Vermutlich nicht nur einen. Vor allem in der politischen Auseinandersetzung mit Gegnern. Möglicherweise sogar mit Parteifreunden. Da sind Verletzungen vorgekommen, wie ich auch selber welche zugefügt bekommen habe. Mir scheint wichtig, dass man darauf achtet – es wird nicht immer gelingen –, dass man Entschuldigung sagen kann, wenn man jemandem weh getan hat, ohne dass das einen sachlichen Grund gehabt hätte. Man muss im politischen Meinungskampf darauf achten, dass aus Gegnern, die es geben muss, keine Feinde werden. Innerstaatliche Feind-Erklärungen sind etwas, was wir nicht brauchen können. Das heißt übrigens nicht, dass nicht gelegentlich auch auf einen verbalen groben Klotz ein kleiner Keil gehörte.

Frage: Wäre Rudolf Scharping so ein Parteifreund, bei dem Sie sich vielleicht entschuldigen wollten?

Schröder: Früher eher. Sicher in den Auseinandersetzungen 1995, Mitte der neunziger Jahre, als es darum ging, wer die Partei führen sollte. Da habe ich bestimmt auch mal Formulierungen gebraucht, die mir damals nachträglich Leid getan haben, heute noch Leid tun. Bezogen auf die aktuelle Entscheidung– den Rücktritt als Verteidigungsminister –das haben wir beide so miteinander hinbekommen, dass jedenfalls diese Form der Verletzungen nicht zugefügt worden ist. Dass Enttäuschungen da sein können, will ich nicht bestreiten, aber ich glaube: nein.

Frage: Herr Stoiber, ist es bei Ihnen und Theo Waigel ähnlich? Waigel war Ihnen im Kampf um die Macht in der Partei unterlegen.
Stoiber: Nein. Ich glaube nicht, dass man das miteina
nder vergleichen kann. Wir kennen uns seit Beginn unserer politischen Tätigkeit, haben vieles gemeinsam. Ich bin vielleicht der impulsivere Typ. Theo Waigel hat sich immer durch große Nachdenklichkeit ausgezeichnet. Wir haben uns gut ergänzt.

Frage: Herr Bundeskanzler, gibt es etwas, was Sie an Ihrem Herausforderer bewundern?

Schröder: Wissen Sie, es macht wenig Sinn, dass wir uns jetzt darüber unterhalten, wie wir uns gegenseitig einschätzen. Das sollte Sache der porträtierenden Journalisten bleiben. Da gibt es ja nun genügend Porträts über den einen wie über den anderen. Dem muss ich kein eigenes hinzufügen. Aber vielleicht so viel: Wir hatten Gelegenheit, als wir beide Ministerpräsidenten waren, miteinander zu arbeiten. Mal besser, mal schlechter. Ich habe in dieser Zusammenarbeit, ohne dass es da zu Ausbrüchen von Männerfreundschaft gekommen wäre, Herrn Stoiber immer als jemanden respektiert, mit dem man auf einer sehr sachlichen Ebene ordentlich zusammenarbeiten kann. Wie das bei den Ministerpräsidenten der deutschen Länder üblich ist, hatten wir ein vernünftiges Arbeitsverhältnis zueinander. Das war es dann aber auch.

Frage: Hat es Sie geärgert oder gar verletzt, wenn Herr Stoiber immer betont hat, Bayern sei ein so toll geführtes Bundesland, während Niedersachsen als Schlusslicht unter den Ländern rangiere?

Schröder: Das ist Meinungskampf. Die Niedersachsen haben sich nicht sonderlich davon beeindrucken lassen. Ich habe immerhin zweimal die absolute Mehrheit erhalten. Niedersachsen ist ja nicht unbedingt ein klassisch-sozialdemokratisches Land. Die Anerkennung durch die Niedersachsen hat mir gereicht. Die Anerkennung durch den bayerischen Ministerpräsidenten habe ich nicht gebraucht, wie er, so unterstelle ich, meine nicht braucht in Bayern.

Frage: Sie sind als politische Gegner im gleichen Rollenspiel. Fühlt man sich über diese Gegnerschaft hinaus manchmal auch verbunden? Ist es nicht auch ein bisschen wie im Sport, dass man sieht, der andere hat die gleichen Nöte wie man selbst? Gibt es solche Momente?

Schröder: Es gab Phasen, in denen wir eng kooperiert haben, zweimal sogar. Das eine war die Automobilindustrie – das ist ja kein Geheimnis –, das andere war die Flugzeugindustrie. Wir hatten in unseren Bundesländern wichtige Automobilwerke, außerdem gab es bei der Weiterentwicklung der damaligen DASA, die heute EADS ist, gemeinsame Standortinteressen. Da haben wir versucht, das miteinander zum Ausgleich zu bringen.

Frage: Herr Stoiber, haben Sie Gerhard Schröder als einen Gesprächspartner empfunden, auf den man sich verlassen kann?

Stoiber: Die Besonderheit lag darin, dass Herr Schröder damals zur Automobilwirtschaft eine Position vertreten hat, die nicht die Mehrheitsmeinung der SPD war. Es gab ja Riesendiskussionen in der SPD, das Autofahren zu verteuern. Herr Schröder hat damals wie ich eine ganz klare Position dagegen eingenommen.

Frage: Zugunsten der großen Automobilunternehmen.

Stoiber: Zugunsten der Autofahrer. Das war bemerkenswert für Herrn Schröder, der ja damals schon ein führendes Mitglied der SPD war.

Frage: Es gibt also das menschliche Miteinander über die Parteigrenzen hinweg. Haben Sie eigentlich in den letzten vier Wochen mal miteinander gesprochen, am Telefon, jenseits solcher Treffen wie hier bei einem Streitgespräch?

Stoiber: Wie stellen Sie sich das denn vor?

Frage: Könnte ja sein bei Bündnisfragen, dass Sie sagen, wir machen jetzt keinen Wahlkampf, wir reden mal darüber.

Stoiber: Das hat es gegeben, in einer schwierigen außenpolitischen Situation. Ich hatte eine lange geplante Einladung nach Moskau zu Oberbürgermeister Luschkow. In diese Phase fiel der militärische Einsatz gegen Milosevic. Russland hatte damals anders als heute eine kritische Position dazu eingenommen. In solchen Situationen möchte ich im Ausland die außenpolitische Positionen unseres Landes vertreten. Da haben wir miteinander telefoniert, da wurde mir von Herrn Schröder empfohlen, den Termin wahrzunehmen und auch mit Primakow...

Frage:...dem damaligen russischen Ministerpräsidenten ...

Stoiber: ...zu sprechen.

Frage: Und vor Ihrer Nahostreise im vergangenen Jahr?

Stoiber: Ja, auch bevor ich nach Israel flog. Da ging es um die Entschädigung für die Hinterbliebenen der Opfer des Terroranschlags während der Olympischen Spiele 1972. Wir haben uns auf eine Geste verständigt, zwei Millionen Mark vom Bund, zwei Millionen vom Land Bayern und zwei Millionen von der Stadt München. Leider ist es dann nicht von israelischer Seite angenommen worden. In solchen essentiellen Fragen halte ich es für absolut notwendig, sich miteinander so weit wie möglich abzustimmen und die Auseinandersetzung nicht auf dieser Ebene zu führen.

Frage: Herr Bundeskanzler, gibt es einen Politiker der anderen großen Volkspartei, den Sie als Person sehr schätzen? Dessen Rat Sie vielleicht sogar einholen?

Schröder: Eine solche Beziehung stellt sich immer erst dann ein, wenn der andere nicht mehr Teil der aktiven Politik ist. Als es um die Teilnahme an „enduring freedom“ ging zum Beispiel, habe ich mit Richard von Weizsäcker, den ich schätze, gesprochen. Ich habe mit Hans-Dietrich Genscher gesprochen. Ich habe auch mit Helmut Kohl gesprochen, obwohl das schon schwieriger wurde. Da merkte man dann, dass die Entfernung vom Amt noch nicht weit genug war, um zu akzeptieren, dass jetzt der Nachfolger entscheidet.

Frage: Herr Stoiber, was war ihr größter politischer Erfolg und was Ihr größter Fehler?

Stoiber: Mein größter politischer Erfolg...

Schröder: Kommt noch, meint er.

Stoiber: Es ist ja immer schwierig...

Schröder: Wir arbeiten daran, dass das nichts wird.

Stoiber: Wenn man 25 Jahre politisch engagiert tätig ist, hat man logischerweise Niederlagen und Erfolg in sicherlich unterschiedlichen Größenordnungen. Der wichtigste Erfolg bisher war für mich der Gewinn der Landtagswahl 1994. Nach dem Rücktritt von Max Streibl als Ministerpräsident war die CSU in Turbulenzen. Diese Schwierigkeiten gemeistert zu haben, darauf bin ich stolz.

Frage: Und der größte Fehler?

Stoiber: Ich kann mich jetzt nicht an den größten Fehler erinnern. Ich habe sicherlich eine Menge Fehler gemacht. Vielleicht 1980 in der Bundestagswahl, dass ich manchmal den Rat gegeben habe, die Konfrontation, die es ja zweifelsohne zwischen Helmut Schmidt und Franz Josef Strauß gegeben hat, nicht abzumildern. Das war eine andere Zeit. Sicherlich war das für mich auch ein Schlüsselerlebnis.

Frage: Sind Sie heute so milde, weil Sie damals so hart waren?

Stoiber: Nein. Das hat damit überhaupt nichts zu tun. Damals sind auch Herr Schröder und ich wesentlich härter miteinander umgegangen. Er als Juso-Vorsitzender, ich als Generalsekretär der CSU. Das waren stark ideologisch geprägte Auseinandersetzungen um Eigentum, um Gleichheit, um Freiheit. Zu Beginn der 80er Jahre ging es zugespitzt zwischen den Parteien um freiheitliche bürgerliche Gesellschaftsordnung oder sozialistische Gesellschaftsordnung.

Frage: Das heißt, die Zeit ist reif für eine große Koalition.

Stoiber: Heute geht es nicht mehr um solche ideologischen Gegensätze, sondern es geht viel mehr um die Effizienz des Regierungshandelns, um die Effizienz des Handelns für die Menschen in einer völlig neuen Situation in Europa, in der Welt.

Frage: Und wie ist das bei Ihnen, Herr Schröder: Ihr größter Fehler?

Schröder: Ich habe die ganze Zeit, während Herr Stoiber redete, darüber nachgedacht, welcher das wohl gewesen sein könnte.

Frage: Und Sie haben keinen gefunden?

Schröder: Mir ist ein größter nicht eingefallen. In der politischen Arbeit kommen immer wieder Fehler vor. Den, den man gerade gemacht hat und der zu den harschesten Reaktionen bei denen führte, auf die man Wert legt, das ist dann immer der größte Fehler. Nach einiger Zeit relativiert sich das wieder.

Frage: War es Ihr größter Fehler, Oskar Lafontaine ein so wichtiges Ministerium wie das Finanzministerium anzuvertrauen?

Schröder: Nein, überhaupt nicht. In der Zeit, in der wir zusammengearbeitet haben, habe ich es ausgesprochen gerne getan. In der Art und Weise, wie er Zugang zur Politik hat, wie er das anfasst, wie er auch mit Freunden wie Gegnern umgeht, habe ich eine Reihe von Gemeinsamkeiten entdeckt, die es mir sehr leicht gemacht haben, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Frage: Heißt das, Sie wollen ihn reaktivieren?

Schröder: Nein. Es geht nicht um reaktivieren. Er hat eine Entscheidung getroffen, die auch Entfernung von der Partei bedeutet. Wenn ich nur an die Kommentatoren-Tätigkeit in der Bild-Zeitung denke. Aber warum soll ich jemand, mit dem ich erfolgreich eine ganze Weile zusammengearbeitet habe, Steine in den Rücken werfen? Dazu habe ich nicht den geringsten Anlass. Dass wir unterschiedliche Auffassungen über Inhalte, über strategische Fragen hatten und haben, das ist hinreichend deutlich geworden. Dazu müssen nicht auch menschliche Querelen im Nachhinein kommen. Das halte ich für völlig überflüssig.

Frage: Und Ihr größter Erfolg?

Schröder: Neben dem Gewinn der ersten Wahl in Niedersachsen, damals in einer rot-grünen Konstellation, war das ohne Zweifel die Kanzlerschaft. Es wäre ja auch ein bisschen merkwürdig, wenn ich das zu relativieren suchte. Das ist das wichtigste Amt in der deutschen Politik, bei allem Respekt vor dem Herrn Bundespräsidenten. Wenn man mit Leib und Seele Politiker ist, ist es nicht ungewöhnlich, wenn man in die Nähe des Amtes kommt, dass man es auch anstrebt. Deswegen habe ich Herrn Stoiber auch nie geglaubt, dass er das nicht wollte.

Frage: Herr Schröder, Sie haben in Ihrer Laufbahn eine Menge Niederlagen und Brüche erleben müssen, politisch und privat.

Schröder: Das ist manchmal so.

Frage: Was bedeutet Ihnen Sieg?

Schröder: Sieg ist immer Erfolg. Und Erfolg ist ein nicht unwichtiger Antrieb – in der Politik ebenso wie in anderen Berufen auch. Ich war ja lange Jahre selbstständig als Anwalt. Da war eine gelungene Strafverteidigung, ein gewonnener Zivil- oder Verwaltungsprozess Erfolg. Sieg ist auch immer Antrieb, um weiterzumachen. Mit Sieg geht noch eines einher. Wenn man gewonnen hat, hat man die Verpflichtung zu Großzügigkeit gegenüber denjenigen, mit denen man gekämpft hat und die man besiegt hat. Das ist etwas, was man lernen muss.

Frage: Sagen Sie das schon vorbeugend?

Schröder: Das hat nichts mit Vorbeugen zu tun, das werden Sie auch erleben und kommentieren dürfen. Das ist eine Erfahrung, die etwas mit meinem persönlichen Leben zu tun hat.

Frage: Herr Stoiber, Ihr politischer Lebensweg sieht nach makelloser Erfolgsgeschichte aus. Sie haben keine Landtagsniederlage erlitten wie Herr Schröder, Sie haben auch im Streit um die Kandidatur gewonnen gegen Frau Merkel. Schröder musste 1994 Rudolf Scharping den Vortritt lassen. Bei Ihnen fehlt noch die Niederlage. Haben Sie Niederlagen erlitten, von denen Sie sagen können, sie hätten Sie ein Stück vorangebracht?

Stoiber: Ich habe gerade die Bundestagswahl 1980 angesprochen. Da war ich als junger Generalsekretär ein großer Motor, Franz Josef Strauß zu zu bewegen, die Auseinandersetzung mit Helmut Schmidt als Nummer eins zu suchen. Natürlich war das auch eine Zäsur im politischen Leben von Franz Josef Strauß, auch in der bayerischen Politik. Logischerweise überlegt man sich, was hat man selber falsch gemacht.

Da lernt man natürlich auch eine ganze Menge. Ich habe auch Niederlagen in der Partei erlebt. Ich bin nach meiner Amtszeit als Generalsekretär gerade noch gewählt worden in den Vorstand der CSU, zum ersten Mal, mit einem außerordentlich schlechten Ergebnis. Ich glaube, es waren 43 Prozent.

Schröder: Das kenne ich.

Stoiber: Oder als ich das Angebot hatte, in das Kabinett Kohl einzutreten als Bundesinnenminister oder auch als Bundesverkehrsminister, später sogar als Bundesverteidigungsminister. Die vergisst man natürlich nicht, die Abwägungsprozesse.

Frage: Jetzt, da Sie nach dem wichtigsten politischen Amt greifen: Würden Sie sagen, Sie haben damals immer richtig entschieden?

Stoiber: Das kann man im Nachhinein leicht sagen. Ich weiß es nicht, wie dann der Weg gegangen wäre. Es war für mich eine konsequente Entscheidung, mich ausschließlich auf die Landespolitik zu konzentrieren.

Aber Ministerpräsident ist ja nicht nur eine landespolitische Funktion. Da ist man auch in der Bundespolitik zu Hause, ob als bayerischer Ministerpräsident oder als niedersächsischer Ministerpräsident. Ich habe mich natürlich eingemischt in die Bundespolitik, in die Europapolitik.

Schröder: Manche sagen, zu sehr.

Stoiber: Wenn man da ein Resümee zieht: Erfahrung ist durch nichts zu ersetzen, vor allem wenn man ein so herausforderndes Amt, wie das des Kanzlers, anstrebt. Dann muss man wissen, welche Ansprüche da gestellt werden. Ich möchte zu diesem Punkt Herrn Schröder etwas ergänzen. Ich war in der Tat lange Zeit entschieden, dass ich diese Herausforderung nicht annehme.

Grund war die Konstellation innerhalb der CDU/CSU – ich will das jetzt nicht näher erläutern. Es ist auch ein Stück Verpflichtung gegenüber der Union und es ist dann natürlich auch ein hohes Maß an Freude dazu gekommen, diese Herausforderung bestehen zu können. Aber ich weiß, was mich erwartet.

Frage: Im Gegensatz zu Herrn Schröder, der frühzeitig an den Stäben des Kanzleramtes gerüttelt und gerufen hat, „ich will da rein!“, konnte man bei Ihnen nicht den Eindruck gewinnen, dass Sie unbedingt von Wolfratshausen nach Berlin wollten. Hat die Partei Sie letztlich gedrängt?

Stoiber: Es ist nicht so wie bei Gerhard Schröder, der ja von der Bundespolitik in die Landespolitik gegangen ist und eigentlich von der Bundespolitik kam. Ich war schwerpunktmäßig ein Landespolitiker. Auf der anderen Seite aber mit großem Interesse an der Bundespolitik.

Ich bin seit 1978 in der Bundespolitik zu Hause als Generalsekretär, Chef der Staatskanzlei, als stellvertretender Parteivorsitzender. Ich war der Einzige, der praktisch bei jeder Koalitionsverhandlung dabei war, von 1982 bis 1994. Da bekommt man natürlich Erfahrungen, bekommt auch Narben, erleidet Niederlagen, inhaltlicher Art. Daran denke ich, wenn eine solche Herausforderung kommt.

Frage: Herr Stoiber, warum sträuben Sie sich zu sagen: Ich wollte das? Gerhard Schröder hat immer dazu gestanden.

Stoiber: Ich will. Sonst würde ich es ja nicht anstreben. Ich will es erreichen und will alles dazu tun, im Wettbewerb mit Gerhard Schröder, im Wettbewerb der beiden großen Parteien, den Sieg zu erringen.

Aber es ist schon so, dass man sich genau prüft, ob man der Herausforderung standhalten kann. Da sprach manches dagegen, manches dafür. Am Ende hat vieles dafür gesprochen, diese Kanzlerkandidatur anzunehmen. Ich bin heute sehr froh darüber.

Frage: Und nun haben Sie gute Chancen, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden.

Stoiber: Dass jetzt, gut sechs Wochen vor der Wahl, die Union eine so geschlossene Formation ist, dass die handelnden Personen so gut zusammenarbeiten, das hätten sich viele vor einem Jahr nicht vorstellen können. Ich glaube auch, dass unser politischer Gegner und Konkurrent das vielleicht gar nicht erwartet hat. Das ist schon ein Riesenerfolg. Das ist das Geheimnis, dass wir so gute Chancen haben.

Frage: Herr Bundeskanzler, haben Sie Ihren Herausforderer unterschätzt?

Schröder: Das nicht. Vor allen Dingen habe ich die Union nicht unterschätzt. Es ist ja auch kein Wunder, dass es eine deutliche Differenz gibt in der Wertschätzung, in der Zustimmung zu Partei und Person.

Frage: Da holt Herr Stoiber gerade auf.

Schröder: Warten wir mal ab, was noch so alles kommt. Ich habe niemanden unterschätzt, überhaupt nicht. Die Union ist, wie sich zeigt, gut für 40 Prozent plus/minus. Wir setzen bei denen auf minus, die auf plus. Die SPD, das ist klar, muss an ihre alte Marke von 1998 heran...

Frage: Da sind sie gegenwärtig nach allen Umfragen noch sechs bis sieben Prozentpunkte entfernt.

Schröder: Moment. Das ist nicht leicht, aber erreichbar. Obwohl wir natürlich all das vor die Tür gelegt kriegen, auf das wir nicht unbedingt Einfluss haben, also etwa die weltwirtschaftlichen Verwerfungen.

Das politische Umfeld ist ja nicht unbedingt so, dass man nur vor Freude jubilieren könnte. Aber deswegen ging es nicht um Unterschätzung, sondern Einschätzung. Das ist geschehen.

Frage: Das heißt, Sie vertreten die natürliche Regierungspartei in Deutschland, die CDU war die Ausnahmesituation?

Schröder: Diese These vertrete nicht ich. Das ist die Attitüde, die gelegentlich deutlich wird bei der Union. Nicht bei allen, aber bei etlichen schon. Man glaubt, die Dinge seien nur in Ordnung, wenn man selber regiert. Dahinter steht eine Gefahr. Die Gefahr nämlich, dass man den Staat als seine Beute begreift. Das ist in einer Demokratie etwas, das ganz schlecht ist. Deswegen würde ich mich dazu nie versteigen.

Es zeichnet eine demokratische Gesellschaft aus, dass es sozusagen Erbhöfe dieser Art nicht geben kann, sondern dass über den politischen Meinungskampf immer wieder neu entschieden wird, wer von den demokratischen Parteien regieren soll oder nicht. Das hat zu tun mit den Konzeptionen, die dafür entwickelt werden, und mit den Personen, die dafür zur Verfügung stehen.

Gäbe es Erbhöfe, gäbe es sozusagen den natürlich Regierenden, was dem einen oder anderen sehr nahe liegen mag, dann wären wir auf einem schlechten Weg in der Demokratie. Den Weg möchte ich auf gar keinen Fall.

Stoiber: Dazu sehe ich keine Gefahr in Deutschland.

Schröder: Das sage ich auch nicht. Mir geht es nur darum – das war ja der Inhalt der Frage –, dass man auf gar keinen Fall den Eindruck erwecken sollte, als könnte es für irgendeine Partei so etwas wie einen natürlichen Regierungsauftrag geben.

Bei 40 Prozent hat man ja noch nicht die Regierungsgewalt. Im Übrigen darf ich daran erinnern, dass es schon Zeiten gab, als die Union allein über 48 Prozent hatte.

Frage: Das war 1976 vor Helmut Kohls erstem Versuch, Kanzler zu werden. Er scheiterte an Schmidt und Genscher. Das ist eine Weile her.

Schröder: Das ist eine Weile her. Ich sage nur: Man hat gelegentlich den Eindruck – nicht bei allen, aber bei etlichen in der Union –, als hätten sie dieses Selbstverständnis, dass die Dinge nur in Ordnung wären, wenn sie selber regierten. Ganz falsch. Ganz undemokratisch. Das wird von uns natürlich massiv bekämpft. Es gibt diesen Anspruch nicht. Den darf es nicht geben in einer Demokratie. Das wissen Sie aber auch.

Stoiber: Dem möchte ich schon widersprechen.

Schröder: Gibt es den natürlichen Anspruch?

Stoiber: Nein. Dass Sie sagen, dass in der Union der Anspruch mehr oder weniger erhoben wird, manifestiert sei, als würde sie sich nur als Regierungspartei begreifen. Ich glaube, dass die Unionsparteien, vor allen Dingen meine Schwesterpartei, einen schweren Weg hinter sich haben.

Man muss sich das mal vor Augen halten: Man verliert nach 16 Jahren die Regierung. Man wird Oppositionspartei. Das ist schon ein Einschnitt, bis man sich darauf eingestellt hat. Dann kommen noch die Sonderprobleme dazu.

Schröder: Sonderprobleme ist ein netter Ausdruck.

Stoiber: Dann kommen noch die Probleme dazu, der Wechsel von Helmut Kohl zu Wolfgang Schäuble, von Wolfgang Schäuble zu Angela Merkel. Jetzt wächst auch in der CDU insgesamt eine Gruppe von Persönlichkeiten zwischen 40 und 50 heran.

Frage: Ja, Sie haben es schon häufig gesagt, es sei ein tolles Team. Trotzdem gewinnt man den Eindruck, als würden Sie den Kanzler umschleichen.

Stoiber: Das ist doch Unsinn.

Frage: Aber der Wähler erkennt hinter einem denkbaren Machtwechsel gar keine besondere Idee. Können Sie mal kurz erklären, wie Ihr Leitbild einer konservativen Wende aussieht?

Stoiber: Ich habe eingangs schon gesagt, ich fühle mich dem christlichen Menschenbild sehr verpflichtet und versuche, meine Politik – soweit das möglich ist – danach auszurichten. Man wird das ja nie ganz erreichen. Für mich kommt zuerst einmal die Freiheit. Jeder soll auf seinem Weg insgesamt das Beste machen. Hier liegt doch der Unterschied zwischen SPD und CDU/CSU. Für die SPD war immer die Gleichheit das Maß aller Dinge. Ich erinnere an die wunderbaren bildhaften Auseinandersetzungen in den achtziger Jahren, die heute sicherlich so nicht mehr geführt werden würden, als Willy Brandt gesagt hat, er stelle sich die Gesellschaft vor wie einen englischen Rasen, so gleich geschnitten, alle gleich.

Schröder: Hat Willy Brandt gesagt? So etwas habe ich nie von ihm gehört.

Stoiber: Das ist natürlich alles holzschnittartig. Darauf ist eine Antwort von Strauß gekommen, der sagte, er stelle sich die Gesellschaft natürlich nicht wie einen englischen Rasen vor, sondern wie eine blühende Wiese.

Frage: Stellen Sie sich so Deutschland vor? Ist das Ihre Metapher für eine ideale Gesellschaft?

Stoiber: Natürlich ist das eine Metapher. Jetzt geht es ja um etwas ganz Entscheidendes. Wir sind in einer wirtschaftlichen Situation in Deutschland, die man nur als prekär bezeichnen kann. Wenn die Bilanz von Herrn Schröder nicht so miserabel wäre...

Frage:...dann hätte er sicher bessere Umfragewerte. Auf die Sachpolitik kommen wr noch. Wir reden jetzt über die intellektuelle Substanz. Bei Willy Brandt gab es eine große Leitidee, die viele Menschen fasziniert hat, auch über das sozialdemokratische Lager hinaus. Sie, Herr Stoiber, würde man wahrscheinlich nur wählen, weil man sagt, vielleicht macht er es besser. Oder?

Stoiber: Nein. Wir haben gegenwärtig keine Debatte in Deutschland, in der Grundsätzliches mit intellektueller Substanz ausgetragen wird. Ich beklage das. Wir haben heute eine viel oberflächlichere politische Debatte als zu den Zeiten, als wir beide noch jünger waren und Sie als Juso-Vorsitzender und ich als Generalsekretär der CSU aufeinander geprallt sind.

Frage: Würden Sie das bedauern, könnten Sie das ja ändern.

Stoiber: Einerseits ja. Sicherlich würde man manche Debatte heute anders führen. Es wird heute sehr viel Oberflächlichkeit in der Politik praktiziert. Sehr viel Nebensächlichkeit, auch sehr viel Verpackung: Wer ist der Beliebtere? Wer ist der Schönere? Wer ist der bessere Darsteller? Das wird heute sehr stark in den Vordergrund gerückt. Das ist einfach auch eine Folge der Mediengesellschaft.

Frage: Wir sind Kummer gewohnt. Auch das nehmen wir klaglos hin.

Stoiber: Ich stelle das nur fest. Aber dadurch werden natürlich inhaltliche Positionen weniger erörtert. Und wenn ich jetzt eine Debatte anstoße in meinen Veranstaltungen über Freiheit und Gleichheit, was ja immer ein faszinierendes Thema ist, dann stelle ich sehr schnell fest, dass über das Grundsätzliche, nur mehr ganz Wenige – im Gegensatz zu vor zehn oder zwanzig Jahren – überhaupt mitdiskutieren wollen. Es kommen sofort die konkreten Themen: Ich habe Angst um den Arbeitsplatz. Die Arbeitslosigkeit ist das Zersetzendste, ist das Zerstörerischste in dieser Gesellschaft, weil Unfrieden in die Familien kommt und sie auch das Selbstbewusstsein der Menschen außerordentlich tangiert. Das ist gegenwärtig verständlicherweise dominant.

Frage: Glauben Sie an eine politische Wende ohne intellektuellen Zeitenwechsel?

Stoiber: Nein. Jetzt komme ich konkret zur Freiheit. Also muss ich alles tun, damit selbstständige Existenzen entstehen, ich muss Unternehmer fördern. Ich brauche mehr Arbeitgeber, um mehr Arbeitsplätze zu haben. Da ist sicherlich ein grundsätzlicher Gegensatz, weil Herr Schröder in besonderem Maße große Organisationen, große Gesellschaften, Kapitalgesellschaften, favorisiert.

Schröder: Das ist zunächst mal eine Behauptung.

Stoiber: Sie formulieren natürlich alles, was zur Wirtschaft zu sagen ist, aus Ihren Erfahrungen, die Sie als Aufsichtsrat bei VW gesammelt haben. Für den Mittelstand haben Sie nicht viel übrig.

Schröder: Ich war nicht Oberregierungsrat wie Sie, sondern selbständiger Anwalt, Privatunternehmer.

Stoiber: Ich im Übrigen auch.

Schröder: Was denn, zu Hause?

Stoiber: Nein. Ich war als Rechtsanwalt zugelassen.

Schröder: Aha. Ich musste eine eigene Kanzlei aufbauen. Das nur wegen des Mittelstandes. Weil Sie gesagt haben, man lebt aus den Erfahrungen.

Stoiber: Ja. Die Erfahrungen, die ich da gesammelt habe, waren sehr gut. Weil ich nicht alleine von der Politik abhängig sein wollte, habe ich mich, nachdem ich in das Parlament gewählt worden war und als Beamter ausgeschieden bin, als Rechtsanwalt angemeldet. Ich habe unter anderem die kleinen mittelständischen Toto- und Lotto-Annahmestellen als Syndikus vertreten. Dabei habe ich eine Menge an Erfahrungen gesammelt.

Frage: Nun haben Sie sich beide als bekennende Mittelständler offenbart. Zurück zur Metaphorik: Herr Stoiber beschreibt Deutschland als blühende Wiese. Sie, Herr Bundeskanzler, haben nach der „ruhigen Hand“ jetzt den „deutschen Weg“ erfunden. Was dürfen wir uns darunter konkret vorstellen?

Schröder: Das ist meine Vorstellung unserer Gesellschaft. Das meint, dass wir in Deutschland – auch nach dem 22.September – das erhalten, was wir immer hinbekommen haben: einen vernünftigen Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Diese Balance hat Deutschland stark gemacht. Sie beinhaltet die Verteidigung von Rechten der Arbeitnehmer, sie beinhaltet auch die Verteidigung
der Schutzfunktion der deutschen Gewerkschaften für diese Arbeitnehmer. Und sie beinhaltet natürlich auch nach außen eine völlige Integration in die EU ebenso wie in das westliche Bündnis. Ich bin es gewesen, der die Beistandsverpflichtung mit der Vertrauensfrage verbunden hat.

Frage: Das war mehr die starke als die ruhige Hand. Und hat viele in Ihrer eigenen Partei verschreckt.

Schröder: Deutschland muss seine Interessen in diesen Bündnissen vertreten, auch sehr selbstbewusst, ohne überheblich zu sein. Ich habe mich gelegentlich sehr kräftig mit der Europäischen Kommission angelegt. Ich streite mit unseren Partnern über eine veränderte Agrarpolitik, um sie finanzierbar zu halten, um gesunde Lebensmittel zu produzieren. Das sind alles Auseinandersetzungen, die notwendig sind, wenn Deutschland seine Positionen markieren muss. Diese Balance zwischen Kapital und Arbeit, diese Mischung aus notwendiger Erneuerung und der Garantie des sozialen Zusammenhangs, das ist Inhalt dessen, was wir als deutschen Weg bezeichnen. Früher haben wir das „Modell Deutschland“ genannt.

Frage: Das ist lange her. Das war unter Helmut Schmidt – zu einer Zeit, als sich in Deutschland auch nicht gerade viel bewegte. Herr Stoiber, können Sie sich nun unter dem deutschen Weg etwas Konkreteres vorstellen?
Stoiber: Ich kann mit dem Begriff nichts anfangen.

Frage: Waren Sie ein bisschen neidisch auf Herrn Schröder, dass ihm das wieder eingefallen ist? In der Metaphorik zumindest scheint er Ihnen voraus zu sein.

Stoiber: Sie messen Politik schon nach eigenartigen Kriterien. Ich halte diese Floskel in der Außenpolitik für gefährlich. Innenpolitisch kann ich nur sagen, der deutsche Weg bedeutet also, Letzter im Wirtschaftswachstum zu sein, den geringsten Abbau an Arbeitslosigkeit zu haben, eine hohe Verschuldung, eine Jugendarbeitslosigkeit, die auf 15 Prozent gestiegen ist...

Schröder: ... die geringste in Europa. All Ihre konservativen Freunde, ob in Italien oder auch in Spanien, stehen schlechter da als wir.

Stoiber: Wenn Sie damit meinen, dass Sie mit dem deutschen Weg in all den Belangen Letzter sind.

Schröder: Das meine ja nicht ich, das meinen Sie.

Stoiber: Das meine nicht ich, sondern das meint zum Beispiel die Europäische Kommission. Es hat noch nie eine Regierung gegeben, die international wegen ihrer wirtschaftlichen Misserfolge so hart kritisiert worden ist – der Internationale Währungsfonds, die OECD, die Europäische Kommission. Wenn die Europäische Kommission an ihrer Prognose festhält, dass die Europäische Union in diesem und im nächsten Jahr 1,8 Millionen Arbeitsplätze schaffen wird und Deutschland aber als einziges Land 180000 Arbeitsplätze abbauen wird, dann muss ich ganz offen sagen, würde ich mich an Ihrer Stelle für diesen deutschen Weg eher schämen als...

Schröder: Aber Herr Stoiber...

Stoiber: Ich habe Sie auch ausreden lassen. Ich will den Gedankengang zu Ende führen. Sie können ja dann wieder dazu etwas sagen. Herr Schröder, Sie sind für mich der sprunghafteste Kanzler, den wir jemals in der Republik hatten. Sie haben 1998 angefangen mit steuerlichen Belastungen der Wirtschaft von 20Milliarden Mark, die darunter gestöhnt hat. Das hat noch Ihr damaliger Finanzminister Lafontaine getan. Damit haben Sie das Kindergeld, Sozialleistungen finanziert. Sie haben damit die Wirtschaft ganz beachtlich belastet, auch den Mittelstand. Dann kamen Sie in eine Phase hinein, wo Sie plötzlich als eine Art Neoliberaler durchs Land liefen mit Tony Blair und dem Schröder-Blair-Papier.

Schröder: Blair ist Sozialdemokrat.

Stoiber: Das Papier ist ein neoliberales Papier. Da ist sehr, sehr wenig von Sozialdemokratie drin. Das gilt heute nicht mehr. Sie haben vor zwei Monaten ein SPD-Wahlprogramm mit großer Zustimmung verabschiedet, das heute auch schon nicht mehr gilt. Jetzt halten Sie Positionen für gut, die in der Hartz-Kommission entwickelt wurden, die wieder das Gegenteil von dem beinhalten, was in dem SPD-Programm steht. Nun kommen Sie am Ende, immer so aus der Hüfte geschossen, mit einem gefährlichen Satz, dem deutschen Weg. Innenpolitisch ist Ihr deutscher Weg wirklich kein erfolgreicher. Außenpolitisch kann ich nur sehr, sehr warnen, diesen Begriff überhaupt zu verwenden. Es gibt für mich in der Außenpolitik natürlich deutsche Interessen, aber diese Interessen sind eingebettet in die europäischen Interessen. Sie glauben, deutsche Interessen mit dem Dampfhammer vertreten zu können, mit Angriffen auf die Europäische Kommission erfolgreich zu sein. Nur lassen sich Bolkenstein und Monti...

Frage: Das sind die EU-Kommissare für Binnenmarkt und Wettbewerb...

Stoiber: ...davon überhaupt nicht beeindrucken. Das zeigen die Ergebnisse. Ich warne Sie vor der Klassifizierung „deutscher Weg“. Der wird im Ausland absolut falsch verstanden. Sie brauchen sich nur die Kommentierungen in Europa anzuschauen. Außenpolitik so zu instrumentalisieren, weil Sie im Moment im Wahlkampf Schwierigkeiten haben, überhaupt auf die Füße zu kommen, ist verantwortungslos.

Schröder: Herr bayerischer Ministerpräsident, Ihre außenpolitischen Warnungen beeindrucken mich nicht. Nur, um das deutlich zu sagen.

Stoiber: Das habe ich befürchtet.

Schröder: Zumal Sie ja eingestehen werden, dass exakt da Ihr größter Erfahrungsschatz nicht vergraben ist. Aber lassen wir das.

Frage: Herr Bundeskanzler, Sie haben nach dem 11.September den Amerikanern „uneingeschränkte Solidarität“ versprochen. Dann sagten Sie, „Solidarität ja, Abenteuer nein“. Jetzt die Kehrtwendung, zumindest eine andere Akzentuierung, wollen Sie sich nicht einmal mit UN-Mandat an Militäraktionen gegen den Irak beteiligen. Das haben Sie beim Golf-Krieg vor zehn Jahren anders gesagt. Warum dieser Schwenk?

Schröder: Es ist weder eine Kehrtwendung noch ein Schwenk. Es sind zwei völlig unterschiedliche Sachverhalte. Unsere Beteiligung an „enduring freedom“...

Frage: Das ist die internationale Militärkooperation gegen den islamischen Terrorismus...

Schröder: ...habe ich durchgesetzt und musste ich durchsetzen in meiner Koalition mit Hilfe der Vertrauensfrage, was nicht einfach war. Das ist die selbstverständliche Beistandspflicht Deutschlands für einen Bündnispartner, der in seinem Land angegriffen wurde. Daran ist nichts zu deuteln. Wir sind engagiert im Rahmen der Operationen „enduring freedom“ und wir bleiben das, weil die Taliban nicht besiegt sind. Wir sind engagiert in der Folge von „enduring freedom“ in Kabul. Ohne die Deutschen liefe da sehr, sehr wenig. Das muss man einfach mal sehen.

Frage: Warum gilt die „uneingeschränkte Solidarität“ nicht weiterhin?

Schröder: Gilt ja. Zunächst musste die frühere Tabuisierung des Militärischen aufgehoben werden, was wir zu verantworten hatten und was für jeden von uns schwer genug war. Etwas ganz anderes ist, wenn Sie unabhängig von dem, was die Vereinten Nationen an Legitimation für „enduring freedom“ verschafft haben, darüber spekulieren, nachdenken, eine öffentliche und halböffentliche Diskussion darüber führen, ob es in der jetzigen Situation richtig und angemessen ist, einen militärischen Angriff gegen den Irak zu planen und durchzuführen.

Frage: Alles andere an militärischem Beistand der Deutschen bleibt davon unberührt?

Schröder: In der jetzigen Situation im Nahen Osten halte ich eine Intervention im Irak für ein Problem. Erst einmal muss geklärt werden, wie man dort die gesamte Region politisch neu organisieren will. Und wie man heraus kommt, wenn man erst einmal drin ist. Damit auch in der öffentlichen Diskussion keine Zweifel aufkommen und bevor Fakten gesetzt werden, die nachher nicht mehr auszuräumen sind, habe ich gesagt: Nein. Und dabei bleibe ich. Nichts wird verändert auf dem Balkan, nichts an unserem Engagement in Afghanistan. Aber die Taliban sind nicht besiegt, und das „nation building“ in Afghanistan ist längst nicht realisiert. Das Gegenteil ist der Fall.

Frage: Waren Sie skeptisch gegenüber dem Bedrohungsszenario, das aus Amerika kommt und den Irak betrifft? Sagen Sie deshalb, dies reicht mir nicht aus?

Schröder: Ich bin der festen Überzeugung, bezogen auf die Situation im Nahen Osten und bezogen auf den Zusammenhalt der internationalen Koalition gegen den Terror, dass es ein Fehler wäre, im Irak militärisch zu intervenieren. Ich bin nicht der Einzige, der diese Auffassung vertritt. Es ist ja deutlich geworden im Gespräch mit dem französischen Präsidenten Chirac in Schwerin, wie in Paris gedacht wird. Dass der eine oder andere etwas offensiver herangeht, aus welchen Gründen auch immer, in Italien beispielsweise, das will ich gerne zugestehen.

Frage: Wie setzen Sie da künftig die Prioritäten?

Schröder: Bezogen auf Deutschland muss ich Ihnen sagen: Wir haben 1998 noch 178 Millionen Euro für internationale Einsätze ausgegeben. Jetzt, im Jahr 2002, werden wir Ende des Jahres bei mehr als 1,7 Milliarden Euro sein. Wir sind nach den Amerikanern der zweitgrößte Truppensteller – vor den Franzosen, weit vor den Engländern –, was die internationalen Einsätze angeht. Die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr auf der einen Seite und das, was wir materiell beitragen können auf der anderen Seite, ist an Grenzen gelangt.

Stoiber: Dem stimme ich zu.

Schröder: Ich finde, unsere Partner müssen das wissen, müssen aber auch zur Kenntnis nehmen, dass dieses Deutschland unter meiner Führung eines jedenfalls nicht verdient hat: irgendeine Kritik daran, dass wir unsere internationalen Aufgaben nicht wahrgenommen hätten. Da geht es wirklich darum, in gleicher Weise selbstbewusst auf Leistungen zu verweisen und deutlich zu machen, was man will und was man nicht will. Genau das geschieht.

Frage: Glauben Sie denn, Herr Bundeskanzler, dass es eine einheitliche europäische Linie geben wird?

Schröder: Ich hoffe, dass es die geben wird. Natürlich wird daran gearbeitet. Aber die kann es doch nur geben, wenn auch gar keine Unklarheit darüber besteht, was zum Beispiel ein Land wie Deutschland für richtig hält. Diese Debatte wird in Amerika, im Kongress, im Senat, mit wirklich großer Ernsthaftigkeit geführt. Sie wird in den anderen europäischen Ländern geführt. Alles öffentlich. Es wäre doch fatal, wenn man in Deutschland so täte, dass eine so zentrale Frage deutscher Politik, nur weil Wahlkampf ist, außen vor gelassen werden könnte. Das kann ja nicht ernsthaft der Fall sein.

Frage: Es wird den amerikanischen Präsidenten im Zweifel nicht interessieren, wie sich die Deutschen zu einer Intervention im Irak einlassen.

Schröder: Ich kann nur sagen, was Zusicherung ist. Nämlich, dass nicht nur über das Wann und Wie, sondern auch über das Ob konsultiert wird. Diese Konsultationen haben jedenfalls auf der offiziellen Ebene bisher nicht stattgefunden.

Frage: Warum haben Sie dann vorzeitig Position bezogen?

Schröder: Sie können doch in einer solchen Situation, wo es Menschen gibt, die Ängste haben, nicht so tun, als könnten Sie diese Frage einfach mal ausblenden und sagen, das ist Sache von Geheimdiplomatie. Wir leben in einer Demokratie.

Frage: Es ist der Eindruck entstanden. dass Sie plötzlich im Wahlkampf den Pazifismus entdeckt haben.

Schröder: Da bin ich ungeeignet. Ich habe ja sehr deutlich gemacht, dass an den Verpflichtungen, die wir übernommen haben, weil das Beistandspflicht gegenüber einem angegriffenen Freund ist, nichts, aber auch rein gar nichts verändert wird. Das betrifft alle Einsatzbereiche. Damit das völlig klar ist. Und solange die Völker in der Welt auf Afghanistan gucken, ob es dort wirklich
eine Friedensdividende für die Rückkehr in die Staatengemeinschaft gibt und wir dort noch weit davon entfernt sind, in einer solchen Situation halte ich es für falsch, über militärische Intervention im Irak öffentlich zu debattieren oder darüber nachzudenken. Wenn das aber so ist, kann ich doch nicht so tun, als wenn ich an dieser Diskussion nur in meinem Kämmerlein beteiligt wäre.

Frage: Würden Sie auf Grund der Erfahrungen der letzten Jahre eigentlich sagen, wir brauchen doch eine Berufsarmee? Das wäre ja mal ein Reformprojekt für die SPD.

Schröder: Ich glaube nicht, dass das der Ausweg wäre.

Frage: Alle Bündnispartner sind inzwischen den Weg gegangen.

Schröder: Wir haben ja in Deutschland nicht zuletzt aus historischen Gründen immer darauf geachtet, dass mit der Wehrpflicht natürlich auch ein Stück Verbindung mit dem Volk geschaffen wird. Es gibt auch praktische Argumente, mit der Wehrpflicht haben wir die Chance, Leute zu bekommen, die man sonst sehr teuer bezahlen müsste – denken Sie an Informatiker – was Auswirkungen auf den Etat hätte. Aber die Verankerung im Volk ist mir schon wichtig.

Frage: Hat das Deutschland immer noch nötig?

Schröder: Nein, nicht in dem Sinne einer Gefahr, dass ein Staat im Staat entstünde. Das nicht. Ich weiß nicht, Herr Stoiber, ob Sie das in Prizren nicht auch gemerkt haben, Sie waren ja gerade da. Mir ist dort aufgefallen, auch in Kabul, dass unsere Soldaten einschließlich der Offiziere ganz anders mit den Menschen umgehen, bei denen sie sind. Das hat etwas mit der Inneren Führung zu tun. Das hat etwas mit der Selbstverständlichkeit zu tun, dass bei uns die Bundeswehr Teil einer demokratischen Gesellschaft ist und sich als solche auch ganz bewusst begreift und das pflegt. Meine Angst wäre, dass davon ein Stück verloren ginge, wenn man eine reine Berufsarmee hätte.

Frage: Herr Stoiber, sehen Sie das genauso wie der Kanzler? Wird es auch unter einem Kanzler Stoiber bei der Wehrpflichtarmee bleiben?

Stoiber: Zunächst möchte ich mal festhalten, dass wir in der Außenpolitik, im Gegensatz zur Wirtschaftspolitik, wo wir nun tief greifende Meinungsunterschiede haben, mit der Regierung Schröder und Fischer stärker übereinstimmen als noch zu Zeiten, als SPD und Grüne in der Opposition waren. Denn diese Regierung hat mit Zustimmung der Opposition aus der Verantwortung Deutschlands etwas getan, was sie früher abgelehnt hatte, nämlich außerhalb des Bündnisgebietes ihre Truppen zu stationieren, um den Frieden zu sichern. Heute sind mit unserer Zustimmung 10000 Bundeswehrsoldaten für UN-Missionen im Einsatz, von Afghanistan bis zum Balkan. Weitere Auslandseinsätze stehen nicht auf der Tagesordnung. Die Bundeswehr ist an ihre Grenzen gelangt. Ich halte diese Übereinstimung für wichtig, weil ich glaube, dass wir auch im Wahlkampf sehr vorsichtig sein müssen, Menschen Angst zu machen mit militärischen Fragen, die sich gar nicht stellen.

Frage: Über einen Einsatz im Irak wird auch in der Bevölkerung heftig diskutiert.

Stoiber: Ich komme schon noch darauf zurück. Ich weiß, dass die deutschen Soldaten im Kosovo in den sechs Monaten ihres Dienstes unter schwierigsten Bedingungen ein unglaubliches Pensum leisten. Die Mannschaftsteile haben ein außerordentlich hohes Niveau und deswegen wird die deutsche Bundeswehr in der Bevölkerung, in Bosnien-Herzegowina sowieso, aber auch im Kosovo und bei den Bündnispartnern außerordentlich geschätzt. Das hängt sicherlich auch mit der Wehrpflicht zusammen. 50 Prozent derer, die sich längerfristig verpflichten und Berufssoldaten werden, kommen aus der Wehrpflicht.

Frage: Also keine Berufsarmee?

Stoiber: Nein. Hier gibt es keine wesentlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen Herrn Schröder und mir. Ich glaube, dass mit der Wehrpflicht auch ein Stück mehr Bewusstsein vorhanden ist, die tun etwas für Deutschland, die tun etwas für den Frieden. Das Volk steht dadurch viel stärker dahinter.

Frage: Herr Stoiber. wie stehen sie nun zu einem Einsatz deutscher Soldaten im Irak oder in anderen Regionen im Nahen Osten? Da haben wir bisher von Ihnen keine klaren Äußerungen gehört. Nur Wolfgang Schäuble ist der Auffassung, dass Deutschland sich beteiligen kann, wenn es ein UN-Mandat gibt. Ist das auch Ihre Meinung?

Stoiber: Ich halte die Beantwortung einer hypothetischen Frage nicht für zielführend. Die Uno ist federführend in diesem Konflikt. Die Uno ist mitten in den Verhandlungen, wie erfolgreich sie auch sein mögen, dass der Irak die UN-Waffeninspektoren wieder ins Land lässt. Das ist ja die aktuelle Forderung, die Annan an Saddam Hussein geschickt hat als Reaktion auf Äußerungen des irakischen Außenministers. Das Ziel ist, durch internationalen Druck zu erreichen, dass die UN-Inspektoren die Überwachung des Waffenvernichtungsprogramms wieder aufnehmen können.

Frage: Was dann, wenn es ein Mandat gibt?

Stoiber: Ich will noch einmal deutlich machen: Die Federführung liegt jetzt ganz eindeutig bei der UNO. Die Staatengemeinschaft – einschließlich Deutschlands – muss den Druck auf Saddam Hussein aufrecht erhalten und darf ihn nicht relativieren, wenn sie Erfolg haben will. Was dann die UNO beschließen wird, kann heute noch niemand beantworten. Deswegen halte ich das Wort „deutscher Weg“ in diesem Zusammenhang für verhängnisvoll.

Frage: Nun haben wir ja vom Kanzler erfahren, dass der „deutsche Weg“ alles umfasst, nicht nur die Außenpolitik.

Stoiber: Es gibt nur eine europäische Lösung, es gibt keine separate deutsche Lösung. Ich bin ja der Meinung, dass Europa in der Außen- und auch in der Verteidigungspolitik – ich hoffe, dass das auch kommen wird durch den Konvent in Europa – noch viel stärker mit einer Stimme sprechen wird. Hier ist ein Mehr an Europa notwendig. Der amerikanische Präsident hat ja nun eine durchaus bemerkenswerte Aussage gemacht hat. Er hat gesagt, beim Thema Amerika–Irak gebe es eine ganze Reihe von Möglichkeiten, diplomatische wirtschaftliche, politische, auch militärische. Er werde diese Frage in enger Abstimmung mit den Europäern klären.

Frage: Wir wollen ein klares, endgültiges Wort des Kanzlerkandidaten Edmund Stoiber hören.

Stoiber: Deshalb ist es unerlässlich, dass Deutschland sich mit den europäischen Partnern vorher abstimmt. Ich sage Ihnen ganz offen: Sie brauchen hier eine europäische Abstimmung, um Amerika beeinflussen zu können. Wenn Sie das wollen, was Schröder will, dann muss man das mit den Europäern gemeinsam gegenüber den Amerikanern vertreten. Mit einem deutschen Sonderweg in einer solch schwierigen Frage schaden Sie der Sache mehr, als Sie ihr nutzen.

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