Angriff auf die solidarische Krankenversicherung |
Der Freiburger Volkswirtschaftler Bernd Raffelhüschen hat gefordert, die Zahnbehandlung langfristig komplett aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen zu streichen. Zudem solle eine Selbstbeteiligung von 900 Euro pro Jahr bei Krankheit eingeführt werden.
Damit ist klar: In Zukunft müssen Kranke selber zahlen. Die solidarische Krankenversicherung ist zum Abschuss freigegeben. Die Kritik verschiedener Politiker an Raffelhüschen entsteht nur, weil diese Tatsache noch nicht so deutlich gesagt werden soll.
Besonders hinterhältig: Die Streichung der Zahnbehandlung begründet Raffelhüschen in seinem Papier damit, dass die Patienten in diesem Bereich jetzt schon 55% der Kosten selbst zahlen. Die Zuzahlung wurde seinerzeit damit begründet, den Patienten die Kosten der Behandlung transparent zu machen. Jetzt dient sie als Begründung zur vollständigen Abschaffung der Zahlungen. Das Gleiche wird natürlich irgendwann auch mit der vorgeschlagenen Selbstbeteiligung passieren, die jetzt auch mit der Transparenz und Eigenverantwortung der Patienten begründet wird. Irgendwann heißt es: Die Leute zahlen sowieso schon die Hälfte. Schaffen wir die öffentliche Krankenversicherung ganz ab!.
Schon jetzt hat, wer in Deutschland das Pech hat, mit seiner Ausbildung und seinem Einkommen zum untersten Fünftel der Bevölkerung zu gehören, auch gesundheitlich schlechte Karten: Menschen aus dem untersten Fünftel tragen über ihr ganzes Leben hinweg, von der Wiege bis zur Bahre, ein ungefähr doppelt so hohes Risiko, ernsthaft zu erkranken oder vorzeitig zu sterben wie Menschen aus dem obersten Fünftel. Diese besser Gestellten leben im Durchschnitt nicht nur etliche Jahre mehr behinderungsfrei, sondern sie leben auch länger, in Deutschland ca. fünf bis sieben Jahre.
Begründet werden die als Reformen getarnten Angriffe auf die erhaltenswerte Kernsubstanz der sozialen Krankenversicherung meist mit der These der Kostenexplosion, die das System angeblich unfinanzierbar macht.
Aber diese Karte ist gezinkt: Ein nüchterner Blick auf die Zahlen verrät etwas ganz anderes: Die Kosten für die Krankenversorgung steigen seit über 20 Jahren ziemlich genau so schnell und so langsam wie das Bruttoinlandsprodukt. Der Anteil der Ausgaben der Krankenversicherung am Bruttoinlandsprodukt liegt seit 1980 konstant bei ca. 6 %, lediglich die deutsche Vereinigung führte zu einem leichten Anstieg. Da explodiert also gar nichts, und schon gar nicht seit 20 Jahren.
Was steigt, sind die Beitragssätze. Die Beitragssätze aber sind v.a. deshalb gestiegen, weil die Einkommen aus abhängiger Arbeit hinter den Profiten des Kapitals zurückbleiben, weil Rationalisierungseffekte zu immer weniger Beschäftigten führen und die Arbeitslosigkeit steigt, die Lohnquote also gesunken ist; weil also beständig eine Umverteilung von unten nach oben stattfindet. Wäre die Lohnquote heute so hoch wie 1980, hätten wir heute auch die gleichen Beitragssätze vie damals, also ca. 12,5% und nicht – wie heute - 14,5%.
Raffelhüschen gibt in seinem Papier zu, dass die Beitragseinnahmen sinken; er führt dies aber ausschließlich auf die geringere Zahl an Geburten zurück und die damit verbundene ungünstige demografische Entwicklung. Eine solche Betrachtungsweise ist vollkommen kurzsichtig. Was hilft es, viele Jugendliche zu haben, wenn sie keine Arbeit bekommen und somit auch keine Beiträge bezahlen können. Auch eine spätere Verrentung hilft nicht, wenn die Unternehmer Ältere entlassen, weil sie keine olympiareifen Leistungen mehr bringen.
Die soziale Krankenversicherung ist durchaus kein Auslaufmodell, sondern sie kann – entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt – die Krankenversorgung für die gesamte Bevölkerung dauerhaft, nachhaltig und solidarisch finanzieren und steuern.
Neben der solidarischen Finanzierung kommt ihr dabei die Aufgabe zu, die aufs Geldverdienen orientierten Träger der Krankenversorgung, also Ärzte, Krankenhäuser, Pharmaindustrie, Pflegedienste etc. durch Verträge und Anreize dazu zu bringen nur das zu tun, was gesundheitlich und medizinisch vernünftig, zweckmäßig und wirksam ist, und das mit hoher Qualität. Da ist viel zu tun: denn gegenwärtig findet dort in gigantischem Umfang und gleichzeitig sowohl Überversorgung wie auch Unterversorgung als auch Fehlversorgung statt. In keinem Land der Erde haben Marktmodelle Wesentliches zur Bewältigung dieser Probleme beigetragen, im Gegenteil. Die Gesundheitsindustrie in den USA verschlingt weitaus mehr Geld, als die deutsche; sie schafft es aber nicht die Bevölkerung umfassend zu versorgen. Eine soziale Krankenversicherung, die der Versorgung der Bevölkerung dient und sich nicht auf die Werbung von gesunden zahlungskräftigen Versicherten konzentrieren muss, kann hier dagegen viel erreichen.
Das Ziel dieser ganzen Angriffe auf die Krankenversicherung besteht lediglich darin, die Unternehmer von ihrer Zahlungspflicht zu befreien. So wie es mit der Riesterrente vorexerziert wurde, wie es mit privaten Zusatzversicherungen für die Zahnbehandlung zum Teil schon passiert, sollen auch die übrigen Krankheitskosten zu Lasten der Kranken privatisiert werden. Nebenbei wird den Versicherungskonzernen ein neuer profitabler Markt eröffnet. Private kapitalgedeckte Versicherungen sind aber vollständig den Schwankungen des Kapitalmarktes ausgesetzt und für eine umfassende Versorgung der Bevölkerung ungeeignet, wie sogar Norbert Blüm (CDU) vor kurzem in einem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung ausführlich darlegte.
Statt die Ausgaben der Krankenkassen durch willkürliche Verschlechterungen der Leistungen und Personalabbau in den Krankenhäusern senken zu wollen, sollte besser die Einnahmesituation durch eine Pflichtversicherung Aller verbessert werden. Wer viel verdient braucht zur Zeit nicht Mitglied einer Krankenkasse zu werden. Jetzt werden die Krankheitskosten für Alte, Familienangehöige, Arbeitslose und Dauerkranke nur von den Arbeitnehmern aufgebracht. Es ist nicht einzusehen, warum die Gutverdienenden zu diesen Kosten nicht herangezogen werden.