Hauptsache gsund - Aus der konkret 10/2003 |
Aus der Zeitschrift Konkret Nr 10/2003
Hauptsache gsund
Die »Gesundheitsreform« nimmt ihren vorhersehbar schlimmen Lauf. Eine »Bürgerversicherung« könnte ihn beschleunigen.
Von Sahra Wagenknecht
"Noch nie zuvor hat es in der fast 30jährigen Geschichte der Kostendämpfungsgesetze
eine Gesundheitsreform gegeben, die Kranke und Versicherte schamloser zur Kasse gebeten
hätte", befand selbst das »Handelsblatt«. Die Rede ist vom sogenannten
»Gesundheitskompromiß«, auf den sich Regierung und Opposition am 21. Juli verständigt
haben. Tatsächlich ist besagter Plan zur Amerikanisierung des deutschen Gesundheitswesens
der unverfrorenste Bruch der SPD mit ihrem früheren Leben als sozialreformistische Partei
in der mit solchen Brüchen reich gesegneten fünfjährigen Geschichte rotgrüner
Regierungspolitik.
In ungleich höherem Grade als heute schon wird die Frage von Gesundheit und Krankheit künftig wieder zu einer Frage der Bonität: Arztbesuche wird man sich leisten können müssen, ein Krankenhausaufenthalt nebst Medikation kann schnell ein kleines Vermögen verschlingen, und Zähne werden sich zumindest die in Arbeitslosigkeit oder Billigjobs Abgeschobenen künftig wohl eher wieder ziehen als mit teuren Kronen versehen lassen. Die als Modernisierung verkaufte Reform wirft uns in Verhältnisse zurück, die seit einem halben Jahrhundert Geschichte waren. Dennoch regt sich in der SPD nur noch müder Widerspruch, der wohl auch bald verstummt sein wird. 17 Fraktionsmitglieder haben sich in der innerfraktionellen Abstimmung zum Nein aufgerafft; im Bundestag waren es noch weniger.
Das Drehbuch, nach dem diese Reform Szene für Szene das Licht der Welt erblickte, bis das Endprodukt nahezu jeder für unausweichlich hielt, wurde von Profis geschrieben. Noch den vor knapp einem Jahr geschlossenen Koalitionsvertrag hatte Ulla Schmidt durch allerlei Phrasen über Solidarität im Gesundheitswesen und Ablehnung einer Zwei Klassen Medizin aufpoliert. Kurz darauf nahm unter Leitung des rührigen Lobbyisten Rürup jene Kommission ihre Arbeit auf, die die Öffentlichkeit ein halbes Jahr lang mit Greuelideen verschreckte: dem Plan einer gänzlichen Beseitigung der Arbeitgeberanteile etwa oder das Ersetzen der gesetzlichen Krankenversicherung durch Kopfpauschalen von 200 Euro, die dann natürlich nur eine Mindestabsicherung gewährleisten sollten.
Ende Mai schließlich legte Ulla Schmidt ihr Gesundheitsreform Konzept auf den Kabinettstisch, das zwar deutlich an Rürup angelehnt war, in wesentlichen Fragen jedoch weniger weit ging und dadurch allgemeine Erleichterung auslöste. Zudem standen in dem Papier einige zweifellos nützliche Vorschläge, die Erstellung einer Positivliste wirkungsgleicher, aber billigerer Medikamente beispielsweise. Eine solche Liste hätte die Profite der Pharmakonzerne zwar sicher nicht nachhaltig geschmälert, schamlose Preistreiberei auf dem Arzneimittelmarkt, die wichtigste Ursache steigender Kassenausgaben, in Zukunft aber doch etwas schwerer gemacht. SPD Kollegen, die die Abzocke und einseitige Belastung der Versicherten im Reformplan beanstandeten, wurden folgerichtig auf dessen annehmbare Seiten und die Unterschiede zum Rürupschen Maximalprogramm verwiesen. Schmidts » Gesundheitssystemmodernisierungsgesetz« atmete dadurch die für die sozialdemokratische Seele so wichtige Aura des »kleineren Übels«, das Schlimmeres verhindern hilft.
Damit war der Boden bereitet für des Gesundheitsdramas letzten Akt. Kaum war Schmidts Konzept in der Welt, wurde die Öffentlichkeit darauf eingestimmt, daß es bei ihm leider nicht bleiben könne. Seit die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat kippten, sitzt die CDU bei allen Gesetzen, die dessen Zustimmung bedürfen, de facto mit am Kabinettstisch und auch die Gesundheitsreform ist zustimmungspflichtig. Diese Konstellation ist freilich alles andere als ein Klotz an Schröders Bein. Sie ist die ideale Basis zur Durchsetzung seiner Politik. Denn zum einen sind sämtliche in der Agenda 2010 versammelten Vorhaben so worttreu aus alten BDI Papieren abgeschrieben, daß die CDU bei Strafe ihres Zerwürfnisses mit den Profitjägern nicht relevant zu mosern wagen darf. Zum anderen hat Schröder durch den faktischen Zwang zur Einigung mit der CDU ein wunderbares Alibi gegenüber innerparteilichen oder gewerkschaftlichen Kritikern, das selbst finsterste soziale Untaten rechtfertigen hilft. Diese Strategie hat mit der Gesundheitsreform ihre Feuerprobe bestanden; weitere Anwendungen stehen bevor, so die Zertrümmerung jener Reste gesetzlicher Altersvorsorge, die Riester im ersten Angriff noch unbeschädigt lassen mußte.
Wie absehbar, ist also in den Verhandlungen zwischen Seehofer und Schmidt ihr ursprünglicher Entwurf deutlich verschlimmert und Rürups Konzept angenähert worden. Insgesamt 23 Milliarden Euro sollen aus den Krankenkassen Budgets durch die Reform bis 2006 herausfallen, bereits für 2004 sind, so Schmidts Ankündigung, Entlastungen von 9,9 Milliarden Euro vorgesehen. Was sich dabei hinter dem schönen Wort »Entlastung« verbirgt, sind allerdings nahezu ausnahmslos bloße Umverteilungen von Lasten. Lediglich geplante 1,5 Milliarden Euro gehen auf das Konto wirklicher Einsparungen bei den Leistungsanbietern. Der große Rest wird in Form von höheren Zuzahlungen, Sonderabgaben und Leistungskürzungen sowie höheren Rentnerbeiträgen auf die Versicherten abgewälzt. Von den angepeilten 23 Milliarden werden die abhängig Beschäftigten rund 16 Milliarden Euro direkt zahlen, davon schätzungsweise vier Milliarden Euro ab 2005 für Zahnersatz und fünf Milliarden Euro ab 2006 für das Krankengeld. Hinzu kommt der spezielle Raucher Beitrag in Höhe von 4,2 Milliarden Euro für einen neuen Bundeszuschuß an die notleidenden Kassen, der aus der Erhöhung der Tabaksteuer finanziert wird.
War die Ausgliederung des Krankengeldes. aus der paritätischen Finanzierung bereits Teile des ursprünglichen Schmidt Konzepts, ist die Sonderversicherung für Zahnersatz ein renditeträchtiger Erfolg der »Konsensgespräche«. Wer seine Zähne auch künftig versichern will, muß eine zusätzliche Police abschließen, was er privat oder auch bei einer gesetzlichen Kasse tun kann. Der Tarif richtet sich in beiden Fällen nicht mehr nach seinem Einkommen.. In diesem kleinen Sektor, einem Einfallstor gewissermaßen, ist Rürups »Kopfgeld« bereits Realität geworden.
Hatte Schmidt noch die Vorstellung, daß Praxisgebühren nur anfallen sollen, wenn der Facharzt ohne Überweisung des Hausarztes aufgesucht wird, wird nun einmal im Quartal eine generelle Praxisgebühr von zehn Euro fällig. Es braucht nicht viel Phantasie, um sich. das Ergebnis auszumalen: Geringverdienende. werden in Zukunft oft wohl erst zum Arzt gehen, wenn anders nichts mehr geht. In vielen' Fällen dürfte das die Behandlung nicht nur' langwieriger und leidensreicher, sondern eben' auch teurer machen. Die Praxisgebühr hat daher gute Aussicht, zu einem jener Spar Bumerangs zu werden, die am Ende die Finanzmisere noch verschlimmern. Eher kostensteigernd wird wohl auch die Regelung wirken, daß Medikamente, die nicht verschreibungspflichtig sind, von den Kassen künftig überhaupt nicht mehr finanziert werden. Immerhin wird dadurch ein Anreiz geschaffen, auch in solche Fällen harte (und daher verschreibungspflichtige) Chemie zu verordnen, wo es im Grunde ein einfaches Mittelchen täte. Denn letzteres dürfte oft mehr als jene zehn Euro kosten, die der Patient im Falle der Verschreibung maximal hinzuzahlen muß. Die Pharmakonzerne wird's freuen. Ein noch großzügigeres Geschenk an deren Aktionäre ist die endgültige Beerdigung der Schmidtschen Positivliste, denn mit ihr stirbt auch der zaghafteste Versuch, der Preistreiberei auf dem Arzneimittelmarkt Grenzen zu setzen.
Trotz rüdester Umverteilung zu Lasten de Kranken muß daher bezweifelt werden, ob die Reform ihr Ziel, die Beiträge von derzeit 14,4 Prozent auf unter 13 Prozentpunkte zu senken, überhaupt erreichen wird. AOK Bundesverbandschef Hans Jürgen Ahrens hat bereits angekündigt, daß die Entlastung von zehn Milliarden Euro im nächsten Jahr nicht über sinkende Beiträge weitergegeben werden kann, da sie gebraucht würde, »... um die aufgelaufenen Defizite und die weiter steigenden Ausgaben der Kassen auszugleichen«. Daß die Vorsorge für den Krankheitsfall für abhängig Beschäftigte in den nächsten Jahren so oder so erheblich teurer werden wird, ist gewiß. Wege, die Beiträge der Unternehmen zu senken, werden andererseits wohl gesucht und auch gefunden werden. Wenn das bisher beschlossene Paket dafür nicht ausreicht, streicht man eben weiter. Die Ziellinie hat Rürup in seinem Abschlußbericht markiert.
Ein alternativer Vorschlag, der jüngst von SPD Generalsekretär Scholz aufgegriffen
wurde, besteht im Umbau der lohnbezogenen Sozialversicherung in eine allgemeine
Bürgerversicherung. Ganz sicher wäre die Einbeziehung sämtlicher Einkommensarten in die
Sozialversicherung mehr als vernünftig. Dennoch sollte man genau hinsehen, was gemeint
ist, ehe man Bürgerversicherungsvertreter mit Sympathie bedenkt. Denn es sind unter
gleichem Titel sehr verschiedene Konzepte auf dem Markt.
Ein Ausweg aus der Finanznot der gesetzlichen Kassen in Richtung einer soliden
Krankenversicherung jedenfalls wäre die Einbeziehung sämtlicher Einkommen nur, wenn die
Beiträge erstens einkommensabhängig bleiben und zweitens so berechnet sind, daß sie
nicht nur eine Minimalversorgung, sondern einen Vollschutz gewährleisten. Ein solcher
Ansatz liefe auf eine allgemeine Versicherungspflicht in den gesetzlichen Kassen und damit
auf die Abschaffung der privaten Krankenversicherung hinaus. Entsprechendes wurde
Lauterbach, dem Urheber der Debatte, zwar unterstellt, von ihm aber eben auch als
Unterstellung zurückgewiesen. Jedenfalls für eine Scholz oder Schröder kompatible
Bürgerversicherung können derartige Ambitionen ausgeschlossen werden. Statt dessen kann
das solidarisch freundlich klingende Konzept auch lediglich auf Rürups Mindestsicherung
hinauslaufen, zwar ebenfalls nicht durch Kopfpauschalen der abhängig Beschäftigten,
sondern durch Einzahlungen aller finanziert, aber dies würde nichts daran ändern, daß
eine bloße Minimalversorgung eben alle Versicherten zwingt so sie irgend können , sich
zusätzlich privat zu versichern. Eine Bürgerversicherung nach diesem Strickmuster wäre
keine Alternative zur Zwei Klassen Medizin, sondern ihre Manifestierung. Das
»Handelsblatt« jedenfalls sieht schon eine ganz eigene Koalition entstehen: »Die
Gewerkschaften fordern nachdrücklich, alle Erwerbstätigen in die Sozialversicherung
einzubeziehen. Auch die Arbeitgeber hegen Sympathien, würden sie doch bei den
Lohnnebenkosten entlastet.«
Unternehmerchef Hundt jedenfalls hat den Seehofer Schmidt Kompromis kritisiert und
erneut gefordert, die gesetzliche Krankenversicherung »durch Entlastungen von mindestens
30 Milliarden Euro auf eine Basissicherung zu konzentrieren.« Rürups Kopfpauschale ist
nicht der einzige Weg dahin. Auch eine »allgemeine Bürgerversicherung« könnte die
Weichen in diese Richtung stellen.
KONKRET 10/2003