Die Gefühlslage der Nation - 5 Jahre Schröder |
Von Ronald Meyer-Arlt
Dieser Herbst wird kalt. Auch, was die Gefühlslage der Nation angeht. Die Renten schrumpfen, den Lebensversicherungen mag man nicht mehr trauen und den Worten der Wirtschaftsweisen auch nicht. Und von Reformen und Kommissionen will auch niemand mehr etwas hören. Man stellt sich auf einen langen, harten Winter ein. Die Ich-AGs haben Angst. Man spart und weiß nicht so recht, worauf eigentlich. Große Ziele haben jetzt andere. Die Chinesen arbeiten daran, Astronauten zum Mond zu schicken, und wir sind froh, wenn’s bei uns bis dahin mit der Lastwagen-Maut klappt. Deutschland hat innerhalb erstaunlich kurzer Zeit seinen Ruf als zumindest in technischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten starke Nation verspielt. Nichts ist hier mehr sicher, kaum etwas funktioniert so, wie es soll. Ein Ruck ist längst durch das Land gegangen, und dann noch einer und noch einer - so viele, dass am Ende ein Zittern dabei herausgekommen ist. Und bewegt hat sich: nichts.
Ehrlich gesagt, haben wir die Hoffnung auf Bewegung auch schon aufgegeben. Man wäre ja schon froh, wenn vieles bleiben würde, wie es ist. Wenn der Stand der sozialen Sicherungssysteme, der Ausbildung und der Verteilung von Arbeit irgendwie auf dem bestehenden Niveau gehalten werden kann. Aber es ist schon klar, dass das nicht geht, dass alles immer noch schlimmer kommen könnte. Stagnation wird Utopie, und das ist kein gutes Zeichen.
Die Beschwörung der Vergangenheit
Während die Politiker allwöchentlich bei Christiansen wechselweise versprechen, hoffen, einfordern und beschwören, dass vielleicht doch noch ein Aufschwung kommt und sich dann alles zum Guten wenden wird mit den Renten und den Arbeitslosen und dem Gesundheitssystem, glauben die meisten Zuschauer eh nicht mehr daran, dass die Konzepte von Merz oder Müntefering irgendetwas Nennenswertes bewirken können. Schön wäre jetzt ein Wunder.
Aber Wunder gibt es woanders. Zum Beispiel im Kino. Dort ist jetzt Sönke Wortmanns Film „Das Wunder von Bern“ erfolgreich angelaufen. Und im Fernsehen folgt Anfang November der Zweiteiler „Das Wunder von Lengede“. Beide Filme haben Ereignisse der jüngeren deutschen Vergangenheit zum Thema: den Sieg der deutschen Mannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 und die Rettung verschütteter Bergleute beim Grubenunglück von Lengede im Jahr 1963. Und dann gibt es da noch einen dritten Film, der sich auch mit der deutschen Vergangenheit beschäftigt: „Good Bye, Lenin“. Dieser Film ist selbst ein Wunder. Er ist einer der erfolgreichsten deutsche Filme der letzten Jahre, er hielt sich lange in den Kino-Bestenlisten, fand begeisterte Zuschauer auch im Ausland, bekam jede Menge Filmpreise und nimmt am Oscar-Wettbewerb teil. Auch „Good Bye, Lenin“ beschwört die deutsche Vergangenheit, nur ist es diesmal der Osten. Der wird in der Nachwendezeit nachgespielt und vielleicht auch ein bisschen verklärt.
Ein großer Reiz all dieser Filme ist das Wiederentdecken untergegangener Welten. Spreewald-Gurken und „Aktuelle Kamera“ in „Good Bye, Lenin“, Wohnküchen mit eierschalenfarbenen Küchenschränken im „Wunder von Bern“. In diesem Film ist der Sog der Vergangenheit besonders stark. Einfach verglaste Fenster, von deren Rahmen die Farbe splittert, Gartenzäune, Wäscheleinen und rußverschmiertes Straßenpflaster - das Kino schafft (ironischerweise oft mit Bildern, die im Computer erzeugt werden) Sehnsuchtswelten, die man kennt, Kindheitsbilder.
Neue Romantik
Die Filmemacher, die sich mit dem Zeitgeist und den Sehnsüchten der Zuschauer auskennen, konstruieren mit Liebe zum Detail vergangene Wirklichkeiten, die realer wirken als die wirkliche Gegenwart. Es sind Wirklichkeiten, die man anfassen kann und nicht erst programmieren muss. Geschaffen wird eine Welt von gestern, die wohnlicher wirkt als die von heute. Weil die Gegenwart so wenig wohnlich scheint, ist das nicht sehr schwer.
Zum Beispiel der Bahnhof im „Wunder von Bern“. Es gibt einen Wartesaal, der ist grün und weiß gekachelt, es gibt Holzbänke und einen Fahrkartenschalter mit einem Bahnbeamten dahinter. Graffiti und Fahrkartenautomaten, die nicht schneller arbeiten, wenn gleich der Zug einfährt, gibt es nicht. Die Vergangenheit, der sich die deutschen Filme jetzt so intensiv zuwenden, hat den Vorteil, überschaubar und handhabbar zu sein. Sie ist so einfach, dass man sie - wie in „Good Bye, Lenin“ - sogar selbst (re)konstruieren kann.
Die Flucht in die Vergangenheit angesichts einer als bedrohlich und hyperkomplex empfundenen Gegenwart ist kulturgeschichtlich kein neues Phänomen. Jeder romantischen Strömung wohnt eine Vergangenheitsorientierung aus Gegenwartsverdruss inne. Das neue romantische Kino hat heute so großen Erfolg, weil das Unbehagen an der Gegenwart so groß ist. Sollte das gerade gestartete „Wunder von Bern“ ähnlich erfolgreich laufen wie „Good Bye, Lenin“, dann sagt das auch viel über die Stimmung im Lande.
Erinnerung an eigene Stärken
Solch romantisierende Rückbesinnungen, die auch in unzähligen Fernsehshows über die siebziger bis neunziger Jahre, im Retro-Design oder in der modischen Neuaneignung der deutschen Terror-Geschichte Ausdruck finden, als tendenziell antiaufklärerisch, gar antidemokratisch zu bezeichnen, greift aber zu weit. In Zeiten der Ungewissheit erinnert man sich gern an eigene Stärken. Und das Kino, diese große Zeitmaschine, spielt gern mit Gründungsmythen. In den USA ist es der Western, der lange den Gründungsmythos gepflegt hat, der deutsche Film scheint sich so einen Mythos (irgendwo in der Nähe des Wirtschaftswunders) gerade zu konstruieren. „Das Wunder von Bern“ ist auch ein Versuch, den Gründungsmythos zu finden. Es ist nicht der Sieg über Ungarn, der am Ende steht, es ist eher ein Mythos vom Wiederaufstehen, vom Weitermachen und von der schwierigen Aussöhnung mit den Vätern.
Ein neues Nationalgefühl, das in Krisenzeiten und Zeiten romantischer Rückbesinnung leicht entstehen kann, wird in all den neuen deutschen Retrofilmen nicht gepflegt. Das ist ein gutes Zeichen. Zwar scheint die Sehnsucht nach einer verstehbaren Welt, einer überschaubaren, greifbaren und einfachen Wirklichkeit recht stark zu sein, aber so stark, dass mit der Vergangenheit im Kino auch das Nationale verklärt werden würde, ist sie nun doch nicht. Oder auch: noch nicht.
aus der HAZ von Ronald Meyer-Arlt, fre