Lügen, Halbwahrheiten und die Wirklichkeit |
Aus der Wochenzeitung unsere zeit vom 2.4.2004
Lügen, Halbwahrheiten und die Wirklichkeit
Eine Widerlegung der ständig propagierten neoliberalen Mythen
Die neoliberale Konterreform mit Um- und Abbau des Sozialstaates und Zerstörung des
Öffentlichen Sektors hat eine Systemänderung zum Ziel: "Zerschlagt das Soziale am
Staat, damit der vom Kapital dominierte Markt allein herrscht!" Der Regierungsapparat
soll sich auf Militär, Polizei und Überwachung konzentrieren. Der Staat soll den Armen
genommen werden, um ihn den Reichen zu geben. Dies neoliberale System-Umbauprogramm
arbeitet mit immer wiederkehrenden Propaganda-Mythen. Wie alle Mythen sollen sie reale
Verhältnisse und Veränderungen erklären und als nicht anders möglich hinstellen, als
unabänderliche Gesetze. Sie nutzen gängige Vorstellungen, oft aus der Vergangenheit, die
verklärt werden. Propaganda-Mythen verdrehen die Wirklichkeit, Halbwahrheiten werden
aufgebauscht, die Lügen sind verschleiert. So wird der neoliberale "Sachzwang"
aufgebaut: "Es gibt keine Alternative!" = There is no alternative = Tina!
Mythos: "Kostenexplosion in den Sozialsystemen"
Die Tatsachen aus dem statistischem Jahrbuch zeigen keine "Explosion": Die
Ausgaben für die Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten lagen 1975 bei
10,1 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt (BIP), 1980 bei 9,3 Prozent und 2001 bei 10,8
Prozent - obwohl durch die massenhaft erzwungenen Frühverrentungen der Anteil der
Menschen, die von Rente leben müssen, sich mehr als verdoppelt hat. Der Anteil der Kosten
für die Gesetzliche Krankenversicherung am BIP liegt ebenfalls seit 25 Jahren immer um
die 6 Prozent und betrug 2001 = 6,8 Prozent. Eine messbare Erhöhung gab es lediglich bei
den Kosten für die Arbeitslosigkeit, nämlich von 1,2 Prozent in 1975 auf 3,1 Prozent in
1992 und dann in 2001 sogar wieder eine Absenkung auf 2,1 Prozent, obwohl die Zahl der
Arbeitslosen ja um einige Millionen gewachsen ist. Aber die Propaganda-Mythen arbeiten mit
der verdrehten Halbwahrheit: Sie zeigen z. B. in einer steil aufsteigenden Kurve, wie in
14 Jahren die Kosten um 100 Prozent gestiegen sind - ohne darauf hinzuweisen, dass die
Preise und die Gesamtwirtschaftsleistung ebenfalls um 100 Prozent zugenommen haben.
Mythos: "Die Lohnnebenkosten sind zu hoch"
Es gibt keine Lohn-"Neben"-kosten. Gemeint sind die Sozialabgaben von den
Bruttolohnkosten, und die sind nicht eine Nebensache, sondern ein wichtiger Bestandteil
des Lohnes. Das merkt jeder, der als Freiberufler oder Ich-AGler sich selbst gegen Zeiten
der Arbeitslosigkeit, der Krankheit oder fürs Alter versichern muss. Wer sagt: "Die
Lohnnebenkosten müssen gesenkt werden", will die Löhne senken. Er propagiert
Lohnraub. Schröder sagt, seine Agenda 2010 senke die Lohnnebenkosten und schaffe so mehr
Arbeitsplätze. Er lügt doppelt:
Seine sogenannte "Reformen" senken die Sozialabgaben nur für den Unternehmer -
der Arbeiter oder die Arbeiterin muss für Zahnersatz usw. sich privat versichern und
zahlt entsprechend mehr.
Schröders Lohnsenkungsprogramm schafft keine Beschäftigung, eher werden noch mehr
Arbeitsplätze vernichtet, weil die Leute sich immer weniger kaufen können.
Die Sozialbeiträge machen hierzulande seit Jahrzehnten um die 15 Prozent vom BIP aus
(ausgegeben werden gut 19 Prozent, 4 Prozent werden aus Steuern aufgefüllt), sie sind
also für die gesamte Volkswirtschaft nicht gestiegen. Allerdings gibt es ein Problem: Die
Sozialabzüge sind für den einzelnen Beschäftigten heute um 25 Prozent höher als vor 25
Jahren, weil immer mehr arbeitslos wurden oder in Minijobs gedrängt wurden. Und für sie
wird wenig oder gar nichts in die Sozialkassen eingezahlt, sie müssen aber mit versorgt
werden. Weil der Anteil der Bruttolöhne am Volkseinkommen zu Gunsten der
Vermögenseinkommen zurückgeschraubt wurde und die Einkommen der höher Verdienenden und
Reichen von den Abgaben freigestellt sind, müssen die Sozialleistungen von der gesunkenen
Zahl jener aufgebracht werden, die noch eine volle Stelle haben. Deshalb hat der einzelne
Arbeiter höhere Abzüge! - Die richtige Konsequenz müsste heißen: Alle Einkommen, auch
Kapitaleinkünfte, werden mit dem gleichen Prozentsatz für Sozialabgaben herangezogen!
Mythos: "Abgaben und Steuern sind in Deutschland zu
hoch"
Der deutsche Sozialstaat ist in Europa schon lange keine Vorzeigemodell mehr, er belegt in
der EU-Sozialrangliste nur noch einen Platz im unteren Mittelfeld. Die Steuern lagen in
2001 bei 21,7 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt. Dies war der niedrigste Satz in der EU.
(FR 21. 1. 03) Deutschland ist für hohe Einkommen und für große Vermögen zu einer
Steueroase geworden: Wenig Erbschaftssteuern, keine Vermögenssteuer, geringe
Gewerbesteuer, kaum Körperschaftssteuer. Und wenn man die Sozialabgaben
("Lohnnebenkosten") zur Steuer dazu zählt, kommt die BRD auf 36,4 Prozent
Abgaben vom BIP. In allen EU-Nachbarländern liegen die Gesamtabgaben wesentlich höher:
in Holland bei 43 Prozent, in Österreich und Italien bei 44 Prozent, in Frankreich bei 46
Prozent, in Schweden gar bei 53 Prozent. In all diesen Ländern sieht die
Arbeitslosenstatistik besser aus als bei uns! Das deutsche Steuer- und Abgaben-Dumping
führt zu weniger Beschäftigung!
Mythos: "Die staatlichen Kassen sind leer und deshalb müssen
alle sparen!"
Dieser Mythos ist besonders wirksam, weil er mit einer Teilwahrheit arbeitet und Sparen
als eine ehrwürdige Tugend gilt. Die Teilwahrheit ist: die Kassen der Kommunen, der
Länder und des Bundes sind tatsächlich ziemlich leer - aber wodurch sind sie leer
geworden? Die Kassen sind durch eine gezielte Steuersenkungspolitik für die Kapitalseite
leergefegt worden. Wenn Weltkonzerne wie Daimler, Siemens, Bayer oder Telekom in Folge der
Eichelschen Steuerreform keine Gewerbesteuer mehr zahlen und bei der Körperschaftssteuer
sogar noch einiges zurückfordern konnten, dann muss der Staat natürlich auf allen Ebenen
arm werden.
Wenn zusätzlich der Spitzensteuersatz von 53 Prozent in 1999 auf 42 Prozent in 2005
gesenkt wird, dann hat davon der Durchschnittsverdiener gar nichts, weil er den
Spitzensteuersatz nie erreichen kann. Aber ein Herr Ackermann von der Deutschen Bank mit
11 Mill. Euro Jahreseinkommen kann 1,2 Millionen Euro mehr auf seinem Konto verbuchen. So
erklärt sich auch der Appell: "Wir müssen alle sparen!" Ja, 90 Prozent der
Bevölkerung muss sich arm sparen, damit die 10 Prozent der Oberschicht ihre
Kapitalrenditen kräftig erhöhen können. Das Geldvermögen hierzulande ist in 2003 um
170 Mrd. Euro auf 3 900 Mrd. weiter aufgehäuft worden. Die Armen müssen sparen, damit
die Reichen noch reicher werden!
Mythos: "Die hohen Staatsschulden belasten unsere Kinder und
Enkel"
Auch hier appelliert der Mythos an eine alte Volksweisheit: Schulden sind schlecht, und
Eltern, die ihren Kindern nur Schulden hinterlassen, sind ganz schlechte Eltern. Die
Teilwahrheit ist: Ja, die Staatsschulden der BRD sind hoch, mit z. Zt. 1,3 Billionen Euro
betragen sie 61 Prozent vom BIP. Ob sie zu hoch sind, ist schwer zu entscheiden; in USA
liegt ihr Anteil bei über 70 Prozent, in Japan bei 140 Prozent. Offenbar funktioniert der
heutige Kapitalismus nur noch mit Hilfe von Staatsverschuldungen. Denn was sind
Staatsschulden? Sind sie dasselbe wie die Schulden einer Familie oder eines kleinen
Betriebes? Nein, keineswegs. Der Staat leiht sich das Geld ja sozusagen "innerhalb
der Familie", d. h. von seinen eigenen Bürgern. 90 Prozent der Bundesschatzbriefe
usw. sind Guthaben von vermögenden Deutschen - die übrigens noch viel mehr auch im
Ausland besitzen. Und das geliehene Geld wird dringend gebraucht, um für uns alle
Bildung, sozialen Frieden, Umweltschutz oder Infrastruktur wenigstens noch halbwegs
aufrecht zu erhalten, es dient also gerade auch unseren Kindern.
Die Staatsschulden werden nur dann Lasten für einen Großteil unserer Kinder sein, wenn
der kleinere, reichere Teil "unserer" Kinder die Staatsschuldtitel als Vermögen
ungeschmälert erbt. Für die Kinder der Reichen würden Bundesschatzbriefe überhaupt
keine Last, sondern eher ein Segen sein! Allerdings nur so lange, wie alles so bliebe, d.
h. wenn es weiterhin keine Vermögenssteuern und kaum eine Erbschaftssteuer geben würde.
Doch der Irrsinn, dass der Staat den Reichen immer mehr Steuern erlässt, um sich
anschließend das erlassene Geld von denselben Leuten gegen Zins und Zinseszins zu leihen,
muss beendet werden: Spätestens die Enkel fechten´s besser aus!
Mythos: "Demografie: Zu viele Alte und zu wenig Junge zwingen
zum Sozialabbau!"
Die Neoliberalen behaupten: Es wären zu viele Alte zu alt geworden und seit Jahrzehnten
schon zu wenige Kinder nachgewachsen. Deshalb müssten die Renten gesenkt und die Kranken-
und Pflegeleistungen drastisch gekürzt werden. - Aber wie verträgt sich das mit der
Tatsache, dass wir 5 Millionen Arbeitslose haben, davon fast 1 Million unter 25 Jahren?
Offenbar sind doch zu viele da und nicht zu wenige, um auch Alte pflegen zu können. -
Wenn man sie denn ließe! Man lässt aber Hunderttausende von Jugendlichen ohne Arbeit und
Ausbildung, weil das für die Gewinne der Konzerne zu teuer sein soll. Es ist nicht
deshalb weniger Geld in den Rentenkassen, weil zu wenig arbeitsfähige Menschen
nachgewachsen wären. Offenbar sind sogar zu viele da. Die Rentenkassen sind leer gemacht
worden durch massiven Stellenabbau, auch durch Streichung der Beiträge von Arbeitslosen,
von Minijobbern oder Ich-AGlern. Mit Demografie hat das alles nichts zu tun, wohl aber mit
einem Kapitalismus, der wuchern will und muss, auch auf Kosten der sozialen Absicherungen
der arbeitenden Bevölkerung.
Dass mit der Keule "Demografie" massiv Ängste erzeugt werden, ist leider wahr.
Alte fragen sich, wie lange sie wohl noch leben dürfen. Die Jungen sehen sich von den
angeblich zu vielen Greisen ausgesaugt - Generationenkampf statt Klassenkampf! Hier wird
Angstpropaganda mit manipulierten Hochrechnungen getrieben. Tatsächlich ist z. B. die
Lebenszeit in der Arbeiterrentenversicherung für Männer in den zurückliegenden 10
Jahren um 2,5 Monate gesunken! (vgl. Rainer Roth, Nebensache Mensch, Frankfurt/M. 2003, S.
436). Und wer behauptet, die Zahl der Geburten würde die nächsten 50 Jahre weiter
zurückgehen, will an der miserablen Situation für Eltern mit Kindern nichts ändern.
Lieber holt man sich die Menschen als ausgebildete Kräfte aus Russland, Indien usw., weil
man so die Kosten für 20 Jahre Kindheit und Ausbildung hierzulande sparen kann!
Mythos "Globalisierung"
Hierbei handelt es sich um einen besonders in Mode gekommenen Mythos, von dem Angst und
Schrecken ausgehen. Gewerkschaften und Betriebsräte gehen vor ihm in die Knie. Ob
Müntefering, Vogel oder Eppler - das sind die Leute, die der SPD-Basis erklären sollen,
warum Schröder nicht nur den Sozialstaat schreddert, sondern schon große Teile seiner
eigenen Partei weggeschreddert hat - alle sagen: Die Globalisierung zwingt uns, den
Sozialstaat so ab- und umzubauen, dass die deutsche Industrie auch in 2010 noch auf dem
Weltmarkt mithalten kann. Die Löhne müssen drastisch runter und die Arbeitszeit muss
erhöht werden, weil Inder und Chinesen zu viel geringeren Löhnen und doppelt so lange
arbeiten. Das sei ein "Zwang aus der Globalisierung", dazu gäbe es "keine
Alternative", also "Tina!"
Tatsächlich ist der grenzüberschreitende Warenhandel mit den meisten Ländern der
"3. Welt" sogar rückläufig, eine Zunahme findet nur zwischen den
Industrieländern selber statt, die Hälfte davon wird innerhalb von Tochterfirmen großer
Konzerne gehandelt! Auch die Investitionen werden zu 90 Prozent in anderen
Industrieländern getätigt, um sich dort vor Ort Marktanteile zu sichern. Die deutschen
Konzerne liefern ihre Exporte zu über 70 Prozent in den EU-Raum, 10 Prozent gehen in die
USA. Mit China und Indien zu drohen, ist ein Witz: Deutschland liefert auch in diese
Länder mehr Waren als es von dort bezieht - obwohl dort doch so fleißig und billig
gearbeitet wird! Würde stimmen, dass geringere Löhne Arbeitsplätze bringen, dann
müsste in jedem Drittweltland mehr nicht nur Vollbeschäftigung, sondern ein Mangel an
Arbeitskräften herrschen!
In Wahrheit ist die deutsche Industrie der größte Globalisierungsgewinner. In 2003
wurden Waren für 130 Mrd. Euro mehr von hier ausgeführt als eingeführt. Das ist der
größte Exportüberschuss weltweit. Dieser Überschuss hat sich in den letzten sechs
Jahren mehr als verdreifacht! Übrigens gilt die positive Handelsbilanz selbst noch in
Bezug auf Polen und Tschechien. Derart hohe Exportüberschüsse zeigen, dass deutsche
Waren nicht mit zu hohen Löhnen, sondern mit zu niedrigen Lohnstückkosten hergestellt
worden sind. Die deutschen Arbeiter produzieren viel mehr als sie selber und die von ihnen
mit zu unterhaltenden Kinder, Kranken, Arbeitslosen und Alten verbrauchen!
Der deutsche Sozialstaat und die deutschen Löhne weisen ein zu niedriges Niveau auf. Und
so nutzen die deutschen Multis und Großbanken den Handelsüberschuss für den Aufkauf
ausländischer Firmen, aber nicht zur Belebung von Handel und Wandel im Inland. Mit
Lohnverzicht und Kürzung bei den Sozialausgaben bezahlen demnach die deutschen Arbeiter
letztlich sogar den "Export" ihrer eigenen Arbeitsplätze! Höhere
Kapitalsteuern und Sozialbeiträge könnten das verhindern.
Otto Meyer
Pfarrer im Ruhestand
jdm/unsere zeit vom 2.04.2004