Dialekt macht schlau | Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2005 |
Dialekt
macht schlau
Pisa Studie stützt wissenschaftliche These, dass Mundart die Sprachfähigkeit der
Kinder verbessert
Von Hans Kratzer
München - In der Sprache der Münchner Jugendlichen kommt er
nicht mehr vor, die Radio und Fernsehsender meiden ihn wie die Pest, in vielen Firmen,
Elternhäusern, Schulen und Universitäten gilt er als primitiv und nicht mehr
zeitgemäß. Doch jetzt hat die aktuelle Pisa Studie dem Dialekt überraschend zu neuer
Aufmerksamkeit verholfen. Dass im Bildungsvergleich ausgerechnet Dialekt Regionen wie
Bayern, Baden Württemberg, Sachsen und Österreich ganz oben stehen, hat eine Reihe von
Fragen aufgeworfen. Sogar die mundartlich wenig inspirierte Bildzeitung titelte etwas
ratlos: Macht uns der Dialekt so schlau?
Mundart Experte Hans Triebel beantwortet diese Frage klipp und klar mit Ja. Unsere
Kinder san ja net so gscheit, weil bei uns die CSU regiert, sondern weil sie von Grund auf
zwei Sprachen lernen, den Dialekt als Muttersprache und das Schriftdeutsche als
Standardsprache", sagt Triebel. Tatsächlich lassen wissenschaftliche Untersuchungen
den Schluss zu, dass Kinder, die mit dem Dialekt aufwachsen und sich dann erst die
Standardsprache aneignen, eine größere Sprachkompetenz entwickeln. Heinz Peter
Meisinger, der Vorsitzende des Deutsehen Philologenverbandes, nennt folgenden Grund für
dieses Phänomen: Dialektsprecher lernen früh, zwischen verschiedenen Sprachebenen
zu unterscheiden. Das trainiert die Auffassungsgabe und das abstrakte Denken." Nach
Ansicht von Josef Kraus, dem Präsidenten des Deutschen Lehrerverbandes, profitieren
Dialektsprecher vor allem in Deutsch und Mathematik von ihrem guten sprachanalytischen
Verständnis.
Ludwig Zehetner, der an der Universität Regensburg bairische Dialektologie lehrt,
verweist überdies auf jüngste Erkenntnisse in der Hirnforschung. Aus denen gehe hervor,
dass sich bei Kindern, die mehrere Sprachen beherrschen, das zuständige Zentrum im Gehirn
besser ausbilde. Der Dialekt ist für ein Kind die optimale Voraussetzung für
jegliche weitere Entfaltung auf sprachlichem Gebiet", sagt Zehetner. Dazu passt die
These seines Kollegen Steininger, dass zwar der Gebrauch des Dialekts rapide zurückgehe,
die Beherrschung der Schriftsprache aber in gleichem Maße abnehme.
Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Untersuchung der Universität Oldenburg, die
Aufsätze von Dritt bis Sechstklässlern über Jahre hinweg auswertete und zu dem Ergebnis
kam, dass die Dialektsprecher 30 Prozent weniger Rechtschreibfehler produzierten. Der
Germanist Rupert Hochholzer vom Regensburger Dialektforum führt das gute Pisa Ergebnis
der Bayern dennoch nicht allein auf den Dialekt zurück. Es gebe zwar starke Hinweise,
dass er eine bedeutende Rolle spiele, aber den wissenschaftlichen Beweis im Feldversuch zu
erbringen, das sei sehr aufwändig und teuer. Für Hochholzer ist der Dialekt nur ein
Mosaikstein des bayerischen Pisa Erfolgs. Dazu kommen sicherlich noch intakte
Familienstrukturen, die Verankerung in der Tradition und die gute wirtschaftliche
Situation im Freistaat.
Ein großes Manko sieht Hochholzer in dem Umstand, dass das Erlernen von Sprachen immer
noch ein Randthema sei. Zwar sagen die Politiker, es sei ganz wichtig Sprachen zu
lernen, aber die Realität schaut anders aus." In Deutschland dominiere immer noch
die einsprachige Ausrichtung des Nationalstaats aus dem 19. Jahrhundert: Ein Staat,
eine Sprache." Eine Ideologie, die auch Nationalsozialisten und Kommunisten rigoros
verfochten zu Lasten der Mehrsprachigkeit und der Dialekte.
Ungeachtet dessen, zeichnet der Münchner Dialektologe Bernhard Stör ein düsteres Bild
der Zukunft des bairischen Dialekts. In seiner Aufsehen erregenden Dissertation hat er
nachgewiesen, dass der Dialekt bei der Münchner Jugend praktisch ausgestorben ist. Er
befürchtet, dass sich dieser Trend rasant fortsetzen werde. Gerade die Bayern litten an
einem mangelnden sprachlichen Selbstbewusstsein. Es fehle ihnen auch an Vorbildern.
Während einer wie der Nobelpreisträger Kurt Wüthrich im schwyzerdütschen Basisdialekt
Fernsehinterviews gebe, bissen sich bayerische Politiker, Fußballer und Fernsehstars
lieber die Zunge ab als bairisch zu reden, schimpft Sepp Obermeier vom Förderverein
Bairische Sprache und Dialekte.
Obermeier hält die schlampig gewordene hochdeutsche Standardsprache für kein gutes
Vorbild. Schon vor Jahren hatte er in geselliger Runde drei Lehrern aus Niedersachsen
deren schlechtes Pisa Abschneiden prophezeit. Der versierte Dialektsprecher aus dem
Bayerischen Wald stützte sich unter anderem auf die ungenaue Anwendung der Präpositionen
in Norddeutschland. Bei Euch geht man zur Schule", rieb er seinen
Gesprächspartnern hin, bei uns aber geht man in die Schule", was Obermeier mit
Blick auf Niedersachsen und Pisa zu dem Schluss kommen ließ: Wenn man vor der
Schultür Halt macht, kann man natürlich nicht soviel lernen."
jdm/Süddeutsche Zeitung vom 18. Juli 2005