Grundschüler gehören einfach noch nicht in das Interne EZ vom 29.09.2005 |
"Grundschüler gehören einfach noch nicht in das
Internet"
Von Carsten van Bevern
Papenburg
"Wir wissen, welches Leid sexueller Missbrauch verursacht. Doch gerade bei Missbrauch
in einem Raum, den viele Erwachsene nicht kennen, sehen viele Eltern, Lehrer, Erzieher und
Jugendämter immer noch weg: das Internet." Zu dieser, in einem Vorwort der
Broschüre "Kinder im Internet. Tatort Chatraum" beschriebenen Problematik
äußerte sich die Journalistin und Gründerin des Vereins "NetKids", Beate
Schöning.
Seit sechs Jahren recherchieren Sie, meist getarnt als Zwölfjährige, zu diesem Thema.
Was war Ihr bislang einschneidendstes Erlebnis?
Schöning: Das war im vergangenen Jahr das Treffen mit dem Vater zweier Söhne im Alter
von zwei und vier Jahren. Er meinte, sich mit einem zwölfjährigen Mädchen zu sexuellen
Spielchen zu treffen. Ich sollte nicht vor neun Uhr morgens kommen, da er vorher immer mit
seinen Kindern im Bett kuscheln würde. Als ich dann vor ihm stand, hörte ich seine
kleinen Kinder oben im Flur spielen. Das war der reinste Horrortrip. Ich bin nach dem
Treffen wirklich fertig gewesen. Und dieser Mann hat als Ehepartner einer Pastorin zudem
Zugang zu allen möglichen Jugendgruppen oder dem Müttertreff in seiner Gemeinde. Er lebt
bis heute unbehelligt.
Wie reagieren andere Täter, wenn ihnen plötzlich nicht ein junges Mädchen, sondern eine
Journalistin samt Kamerateam gegenübersteht?
Schöning: Ganz unterschiedlich. Ich arbeite ja mit einem Lockvogel, lasse erst eine
Unterhaltung in Gang kommen - so unter dem Motto' "du bist doch die Claire aus dem
Chatraum?". Ich schreite dann ein, bevor Täter und vermeintliches Opfer gemeinsam
wegfahren. Einige sind zuerst geschockt, reagieren dann aber ganz locker und spielen sich
noch als Retter auf; sie hätten dem Mädchen nur sagen wollen, dass es so etwas doch
nicht machen dürfe. Wieder andere geben anschließend sogar ein Interview über ihr
Verhalten und ihre Begierden.
Welche Rolle spielen Frauen als Täter?
Schöning: Bei den Frauen haben wir eine hohe Dunkelziffer - wie bei den Opfern auch. Aber
sie sind da, und wir werden noch unser blaues Wunder erleben bei unseren gerade erst
begonnenen Untersuchungen in diesem Bereich. Insbesondere bei allen extremeren sexuellen
Praktiken sind Frauen sehr präsent. Vor allem müssen wir uns von diesem glorifizierenden
Mutterbild trennen. Meist suchen Frauen Sexualpartner für sich und ihre Kinder und
unterhalten sich in Foren auch ganz offen darüber, wem sie ihre eigenen Kinder schon
vermittelt haben. So antwortete eine Frau auf die Frage, was sie denn mache, wenn ihre
Kinder den Sex der Eltern mitbekämen: Na ja, dann machen sie halt mit. Und auch die
Jungen dürfen wir als Opfer nicht vergessen. Sie beschäftigen sich oft lange mit der Tat
- reden aber viel weniger darüber.
Vom Versenden freizügiger Bilder bis hin zur Vergewaltigung reicht das Spektrum
möglicher Taten. Wie gehen die Opfer damit um?
Schöning: Ich mache Internetschulungen so ab Klasse fünf. Rund die Hälfte der Kinder
hat meist schon gechattet und 60 Prozent dieser haben bereits derartige Erfahrungen
gemacht. Manche reden von einem mulmigen Gefühl und fragen sich, was sie jetzt machen
sollen. Andere wieder haben Angst, weil sie ihre Handynummer bekannt gegeben haben und
danach wochenlang belästigt worden sind. Eine 16-Jährige lacht dagegen meist, wenn ihr
ein Bild eines sich selbst befriedigenden Mannes zugeschickt wird. Sie ist einfach durch
ihre Erfahrungen schon abgehärtet. Und gerade vor dieser Verrohung habe ich Angst. Diese
Fäkalsprache und allerlei Sexualpraktiken werden für viele schon zur Normalität.
Ab welchem Alter halten Sie das Internet für gerechtfertigt, und welche Tipps können Sie
Eltern gegen?
Schöning: Ab einem Alter von zwölf Jahren sollte ein von Eltern begleiteter Einstieg
möglich sein. Die Seele muss bei den aufgezeigten Gefahren auf jeden Fall die Chance
haben, mitzuwachsen. Vor allem sollten sich Eltern auch für die Aktivitäten im Netz und
die Chatpartner interessieren. Nach anderen Freunden wird ja auch meist gefragt.
Grundschüler gehören aber einfach noch nicht ins Internet. Eltern sollten sich bewusst
machen, dass das Geschehen im Netz so real ist wie ein Gespräch mit der Nachbarin, und
sich mit dem Internet beschäftigen. Und auch selber mal auf einer Kinderseite nachsehen,
was dort so alles geboten wird. Zudem sollten wir das Internet nicht immer so
hochstilisieren und den Wert des Mediums genauer hinterfragen: Was bringt es eigentlich,
wenn mein Kind drei Stunden lang mit wildfremden Menschen chattet?
jklEms-Zeitung vom 29.09.2005