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Novelle von Levin Schücking:
Die Wippinger Thekla
Kapitel 1
Wie tief sich Jugendeindrücke eingraben! Durch wie viele Länder
bin ich gewandert, in welchen Orten, in Städten wie Dörfern, in Ebenen und
Gebirgstälern hat mich ein unstetes Schicksal nicht gezwungen, für lange Jahre
oder für kurze Monde mein Zelt aufzuschlagen. Überall haben sich da, wenn ich
das Auge von Schreibmappe oder Buch aufschlug und in die Ferne blickte,
fesselnde Bilder vor mir ausgebreitet; interessante Straßenperspektiven
berühmter Hauptstädte oder blühende Landschaften mit sonnigen, lachenden
Farben; blaue in Duft verschwimmende Seespiegel oder dunkle, stimmungsreiche
Berg- und Felsgebilde. Sie alle habe ich Tag für Tag, wieder und wieder, mit
frischen Sinnen betrachtet, stundenlang das Auge darauf geheftet, dem Spiel der
Schatten, welche die ziehenden Wolken über sie jagten, den Wirkungen des
Lichts, welche die wechselnde Tagesstunde in ihnen hervorrief, zu folgen. Und
doch wie unklar, verschwommen, weit in nebelgraue Ferne gerückt, sind alle
diese meist so vertrauten Bilder geworden im Vergleich mit dem, worauf nichts
sich dem Auge zeigt, als im Vordergrund eine breite, violettbraune, von einem
grauen Himmel überspannte Heide, durchzogen von gelbweißen Stellen, an denen
der nackte Sand zu Tage bricht und niedrige Rücken wie Wellen schlägt, auf
welchem grüne Ginsterbüsche stehen. Im Mittelgrunde ein von Baumwipfeln und
Eichengehölzen verhülltes Dorf, dessen lange Strohdächer durch das Grün brechen
und ihre Rauchsäulen in die stille Luft emporsenden; und als Stern von allen
die alte Kirche mit den rotgrauen Ziegeln, den über Feldsteinfundamenten
aufsteigenden Mauerstreben und dem wettergepeitschten mächtigen Turm mit einer
Kuppelhaube, an dem nagend, zerbröckelnd die Nordweststürme, die Jahrhunderte
vorübergezogen sind und die Geschlechter der Menschen, denen er mit seinem
harten Steingefuge das Symbol des Ewigbleibenden ist, während an seinem Fuß,
auf dem Kirchhof, der ihn umgibt, das Ewigvergängliche an diesen Geschlechtern,
das dem Tod Verfallene wie schutzsuchend sich in seinen Schatten drängt.
Das ist das "stimmungsreiche" Bild, welches mir von
allen am lebendigsten vor Augen steht - denn es ist etwas wie der Mittelpunkt
meiner ersten Knabenjahre.
Eines Morgens erinnere ich mich mit besonderer Lebhaftigkeit, wo
ich mich mit Knaben meines Alters in diesem Alter umhertrieb. Wir hatten
Sperlingsnester zerstört, waren dazu durch allerlei Hecken und Zäune gebrochen
und endlich mit erhitzten Wangen und einem bei dem stillen nebelverschleierten
Tag ganz unmotivierten Lärm bis an den breiten Strom gekommen, welcher an der
anderen Seite des Dorfes vorüberflutete, dicht am Kirchhof entlang, der sich
mit einer hochaufgebauten Schutzmauer festungsartig über ihm erhob.
Auf dem langsam mit feinen Wassern sich fortschiebenden
Flußspiegel lag der Nebel dichter, sich wie
dünner, bläulicher Rauch träufelnd, und einen leisen Flor breitend vor
dem weiten Flächenland und seinen dunklen Moorgründen am jenseitigen Ufer, wo
das westliche Nachbarland lag; denn der Fluß schied hier als uralte Grenzmarke
zwei Königreiche und zwei Volksstämme.
Über den Fluß hin rollten Laute, in die Nebel hinein erzitternde
Klänge. Sie kamen aus unserem alten Turme, durch dessen Schallöcher wir die Glocken
hin- und herschwingen sahen - die Totenglocken, denn es war das Totengeläut,
welches so dicht über uns erscholl. Auf dem Kirchhof oben aber nahmen wir
zusammenströmende Dorfleute - mit auffallender Hast der Bewegung - wahr; ihrer
mehr als sonst da zusammenzukommen pflegten, wenn die "Freundschaft einem
der ihren die letzte Ehre erwies": es mußte da etwas vorgehn! Wir waren
bald oben.
Aber die rostigen Stangentore des Kirchhofs ließen uns nicht ein.
Sie waren seltsamerweise geschlossen, während sie doch zur Aufnahme des von den
Glocken angekündigten Zugs hätten weit offen stehen müssen; eine geifernde,
sich stets mehrende Anzahl Menschen, die sich hinter ihnen auf dem Kirchhof
drängte, stieß scheltende, drohende Worte aus - es war, als ob es sich für sie
darum handle, die Tore wider einen eindringenden Feind zu verteidigen!
Auf einem Umweg, durch das kleine, immer offene Seitentor, hatten
wir uns bald zwischen das meist in Hemdsärmeln herangelaufene Volk gedrängt,
unter denen keifende Frauenspersonen das lauteste Geschrei machten, und
vernahmen nun, um was es sich handle. Der Grenzaufseher Philipp, ein scharfer,
gefürchteter Gesell, von dem es hieß, er habe durch seine Denunziationen
bereits viele Leute ins Unglück gebracht, war vor drei Tagen erschossen
gefunden. Draußen im "Brook", im verkümmerten Wald, der mit seinem
niedern Zwergholz von Krüppeleichen sich bis zum Fluß hinabzog, an einem
Strauchwerk hatte er gelegen, nahe an einem Fußweg und auch nicht weit von
einer Stelle am Ufer, von der es hieß, daß die Schmuggler dort ihren Wechsel
hätten, weil sie bequem zur Überfahrt sei. Nun waren diese Schmuggler, deren es
viele an der langgedehnten Grenze gab, wohl meist verwegene Menschen, oft auch
scharf bewaffnet - von blutigen Ausgängen ihrer Zusammenstöße mit den
Grenzaufsehern hörte man jedoch wenig; sie zogen meist vor, ihre Packen
fortzuwerfen und sich durch die Flucht zu retten. Und wenn auch der Aufseher
Philipp von einem nächtlichen Patrouillengang nicht heimgekehrt war, sondern
mit einer Ladung schweren Schrotes, die ihm durch den Kopf gegangen, getötet
worden und so aufgefunden, so behaupteten die Dorfleute, folge daraus nicht,
daß ihn ein Schmuggler erschossen habe, und könne sich ebensowohl selbst
getötet haben - mit seinem Weibe habe er längst in bittrem Unfrieden und Hader
gelebt, und ein Sohn sei ihm in der vorigen Woche durchgegangen, nach Holland,
um da auf See zu gehen. Einen Selbstmörder aber wollten die Leute nicht auf
ihrem Friedhof, bei den friedlich entschlafenen Gebeinen der ihrigen liegen
haben - und noch weniger einen Protestanten: es war, als ob solch ein
Andersgläubiger, ein Ketzer, das ganze geweihte Reich der Unterirdischen da im
Erdenschoß in Zerstörung und Aufruhr bringen und der Entweihung die Unseligkeit
für sie alle und ihre Kinder und Kindeskinder folgen müsse.
Die Zerstörung und der Aufruhr waren vor der Hand nur bei den
Lebenden, und dieser Aufruhr steigerte sich zu wüstem Geschrei und Drohungen,
als nach einer Weile der Leichenzug nun wirklich herankam - ein mit zwei mageren
Ackerpferden bespannter Bauernwagen, auf dem der mit einem schwarzen Bahrtuch
verdeckte Sarg stand - ein Paar militärische Ehrenzeichen lagen darauf - dem
Wagen folgten ein halbes Dutzend Grenzaufseher, die von ihren Stationen
zusammengekommen, und eine große magere Frau mit einem harten, tränenlosen
Gesicht, im schwarzen Kleide, einen Knaben von zwölf Jahren an der Hand
führend. So kam der Wagen über das höckerige Dorfpflaster langsam
herangerüttelt und geschüttelt und hielt vor dem Kirchhoftor. Die Dorfleute
schrieen und tobten ihre Protestationen durch das Gitter heraus; die Frau, ihre
Arme auf der Brust verschränkend, antwortete ihnen nur durch ein
verachtungsvolles böses Lachen; der Anführer der Aufseher aber schrie
gebieterisch in den Tumult hinein, drohte, wollte das Tor sprengen lassen - es
war eine häßliche Szene an der Schwelle der Stätte, die von ewigem Frieden
sprach. Da entstand plötzlich ein Zusammendrängen unter dem Volk - "der
Herr Pastor!" hieß es; sie machten eine Gasse frei, und durch diese kam
ein korpulenter Mann mit weißen Haaren und einem vollen roten Gesicht, in
weißem Chorhemde geschritten - er legte die Hand auf den von innen
vorgeschobenen schweren Riegel des Tores; die Dorfbewohner, die sofort stille
geworden waren, um ihrem Pfarrer die Ausfechtung des Streites zu überlassen,
mochten glauben, er wolle sich von der Festigkeit des Riegels überzeugen - doch
sich gegen sie wendend, sagte er mit lauter, sonorer Stimme:
"Wer hat das Tor geschlossen, das ich zu öffnen befahl? Habt
Ihr die Gewalt, die da öffnet oder zuschließt, oder hat sie die Kirche, habe
ich sie? Einem toten Menschen, der im Dienste seiner Pflicht sein Leben hingab,
wollt Ihr den Weg zur geweihten Stätte versperren; Ihr gönnt ihm nicht die
Stelle, wo seine Seele den Frieden haben kann, den sein schweres, mühevolles
Leben ihm nicht gewähren konnte? Hat
unser Herr, als er die Worte sprach: Kommt alle zu mir, die Ihr mühselig und
beladen seid, einen Unterschied gemacht zwischen den Gebeugten, Mühebeladenen,
je nachdem sie Sadducäer oder Effäer seien, anbeteten zu Samaria oder zu
Jerusalem? Einen Selbstmörder nennt Ihr den Toten? Wer von Euch weiß es, daß er
es ist ? Und wäre er es: ich sage Euch, auch die Selbstmörder haben den Teil am
Himmelreich, denen ihnen der Herr gewährt - was sollen sündenvolle Menschen
ihnen nicht gewähren, teil zu haben an der Stätte des Friedens, die für alle
ist!"
Damit riß der Pfarrer mit kräftiger Hand den Riegel zurück, die
zwei Chorknaben, die ihm gefolgt waren, schoben die schweren Torflügel auf, und
verdutzt und mit langen Gesichtern, aber schweigend, wichen die Dörfler zurück,
um dem Wagen mit der Leiche Platz zu machen. Die Bestattung ging nun in der
gewöhnlichen Weise vor sich - in der entferntesten Ecke des Kirchhofs wurde der
Tote versenkt; der Pfarrer assistierte dabei, als nähme er einen
Glaubensgenossen unter die auf, von deren fromme Hoffnung das
"Resurrecturi" spricht.
Es gab noch solche Pfarrer damals, die, sich ihrer Würde bewußt,
zu den Attributen dieser Würde die Freiheit rechneten, mit christlichem Geist
und menschlichem Herzen ihrer eigenen Exegese zu folgen.
Wenn aber die Dörfler in ihrem Respekt vor dem verehrten
Seelenhirten ihm keinen Widerstand geleistet und selbst die Weiber keinen
Widerspruch gewagt hatten, so hielt dies sie nicht ab, noch viele Tage nachher
den Vorfall zum Gegenstande der lebhaftesten Erörterung zu machen, wenn sie
abends um die Torffeuer auf ihrem Herde saßen. Die meisten kamen darin überein,
daß der Pfarrer trotz allem, was er gesprochen, dennoch keinen Selbstmörder auf
seinen Kirchhof aufgenommen hätte, und daß er also wissen müsse, der Aufseher
Philipp sei von einem Schmuggler erschossen. Diese Überzeugung mußten auch die
Gerichte haben, denn sie forschten ja mit auffallender Tätigkeit und Schärfe nach
dem Mörder. Ein Kriminalbeamter hatte sich mehrere Tage lang im Dorfe
aufgehalten; er hatte ein paar Landdragoner mitgebracht, die noch da waren, und
die Grenzaufseher zeigten sich mit ihnen in rastloser Bewegung. Hatten sie
Spuren des Täters gefunden, die sie so eifrig verfolgten? Sie schwiegen
darüber, und was das Landvolk anging, so befand sich dieses über die Frage nach
dem Mörder völlig im Dunkeln, es hatte nicht einmal einen Verdacht.