Ems-Zeitung vom 27. Juli 2007

 

Selbstmorde in Atomanlage heizen Sicherheitsdebatte an

 

Soziologin: Mitarbeiter durch Sparpolitik unter Druck

 

Von Jutta Hartlieb

 

AFP STRASSBURG. Zwischen 300 und 400 Menschen in Frankreich, so geht aus einer kürzlich veröffentlichten Untersuchung des staatlichen Wirtschafts‑ und Sozialrats hervor, verüben jährlich aus beruflichen Gründen Selbstmord. Und einiges spricht dafür, dass das Phänomen eine besonders sensible Sparte überdurchschnittlich häufig betrifft: die Atomwirtschaft. Allein im Atomkraftwerk (AKW) Chinon an der Loire nahmen sich in den letzten zwei Jahren vier Mitarbeiter das Leben, drei davon seit Jahresbeginn. Und am 18. Juni setzte eine Ingenieurin des Atomkonzerns Areva die schwarze Serie fort: Sie stürzte sich aus ihrem Pariser Büro im 7. Stock in den Tod.

 

„Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs", glaubt Michel Lallier, der für die Gewerkschaft CGT im Betriebsrat des AKW sitzt. Seit Mitte der Neunzigerjahre habe es allein in diesem Meiler zehn Selbstmordfälle gegeben. Und es sei wahrscheinlich, dass auch in den anderen französischen Atommeilern eine Reihe Suizide verübt wurden. Der staatliche Stromkonzern Edf habe Statistiken darüber, halte sie jedoch unter Verschluss. Eine Sprecherin von EdF wollte dazu nicht Stellung nehmen.

 

„Die Gefahren sind

bekannt, aber niemand

schert sich darum"

 

Annie Thebaud‑Mony,

Soziologin

 

Gesprächiger ist Dominique Huez, einer der vier Werksärzte im AKW Chinon. Die Arbeitsbedingungen in den 19 Atomkraftwerken des Landes hätten sich „erheblich verschlechtert", seit EdF 2004 mit Blick auf die Öffnung des Strommarktes in der EU den jüngsten Sparplan gestartet habe. Seither gehe es vor allem um Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität, kritisiert der Mediziner. Für die Kontrolle von Haarrissen im Reaktormantel etwa hätten die Beschäftigten heute deutlich weniger Zeit als noch vor einigen Jahren. Die Techniker und Ingenieure, denen die Gefährlichkeit der Atomanlagen bekannt sei, würden so in einen Gewissenskonflikt gebracht. „Die Frage nach der Sicherheit belastet die Beschäftigten", sagt Huez.

 

Für die Soziologin Annie Thebaud‑Mony ist die Sparpolitik des Stromkonzerns EdF der Kern des Problems. Immer mehr sicherheitsrelevante Wartungsarbeiten würden aus Kostengründen an Zeitarbeitsfirmen vergeben. Noch vor zehn Jahren seien die Kraftwerke zum Austausch der Brennelemente sechs Wochen vom Netz genommen worden. Heute müssten die gleichen Arbeiten in zehn Tagen erledigt werden. „Dabei werden die Meiler immer älter und wartungsbedürftiger."

 

Die Folge sei, dass sowohl die Angestellten wie auch die Zeitarbeiter immer mehr an der Sicherheit der Anlagen zweifelten, warnt Thebaud-Mony, die für das staatliche medizinische Forschungsinstitut Inserm zehn Jahre lang die Arbeitsbedingungen in der französischen Atomindustrie untersucht hat. Die Festangestellten hätten das Gefühl, den Überblick über ihren Verantwortungsbereich zu verlieren, einigen erscheine der Selbstmord schließlich als der einzige Ausweg aus dem Dilemma.

 

Dass Frankreichs Staatschef Nicolas Sarkozy nun eine Untersuchung über die Selbstmord‑Gefahr am Arbeitsplatz angekündigt hat, erscheint der Soziologin wenig hilfreich. Über das Phänomen gebe es reichlich Studien, einige seien vom Arbeitsministerium in Auftrag gegeben worden. „Die Gefahren sind bekannt, aber bislang schert sich niemand darum."