13.07.2013 - Essay zum Urteil des OLGs Hamm, dass Samenspender nicht anonym bleiben dürfen

Epigenetikforschung legt nahe: Abstammung leicht überbewertet

Das OLG Hamm hat mit Urteil vom 6. Februar 2013 einer  Frau Sarah P.  im Prozess gegen einen Reproduktionsarzt Recht gegeben und diesen zur Auskunft über Sarahs genetischen Vater verurteilt. Im Urteil heißt es:

“Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann. Verständnis und Entfaltung der Individualität sind aber mit der Kenntnis der für sie konstitutiven Faktoren eng verbunden. Zu diesen zählt neben anderen die Abstammung. Sie legt nicht nur die genetische Ausstattung des Einzelnen fest und prägt so seine Persönlichkeit mit. Unabhängig davon nimmt sie auch im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung für Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein. Insofern hängt der Persönlichkeitswert der Kenntnis auch nicht von dem Maß an Aufklärung ab, das die Biologie derzeit über die Erbanlagen des Menschen, die für seine Lebensgestaltung bedeutsam sein können, zu vermitteln vermag. Bei Individualitätsfindung und Selbstverständnis handelt es sich vielmehr um einen vielschichtigen Vorgang, in dem biologisch gesicherte Erkenntnisse keineswegs allein ausschlaggebend sind. Als Individualisierungsmerkmal gehört die Abstammung zur Persönlichkeit, und die Kenntnis der Herkunft bietet dem Einzelnen unabhängig vom Ausmaß wissenschaftlicher Ergebnisse wichtige Anknüpfungspunkte für das Verständnis und die Entfaltung der eigenen Individualität. Daher umfasst das Persönlichkeitsrecht auch die Kenntnis der eigenen Abstammung.” 

Der Verein „Spenderkinder“ – ein Zusammenschluss von durch Samenspende gezeugten Erwachsenen - begrüßte das Urteil. Ein Verein nicht verheirateter Väter, wo Väter sich ein Recht auf ihre leiblichen Kinder erkämpfen wollen, auch wenn sie keine Beziehung zum Kind haben und es einen sozialen Vater gibt, fordert ein Recht auf einen Vaterschaftstest auch gegen den Willen der sozialen Familie. Auch Adoptierte sind auf der Suche nach „der wirklichen Familie, nach den Wurzeln.“. 

In der Zeitschrift „Bahamas“ nennt Philippe Witzmann das jetzt richterlich erkannte „Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung“ einen weiteren zivilisationsfeindlichen Schritt. 

Dieses Bedürfnis nach Wissen über Herkunft und Ursprung hat nichts zu tun mit der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und dem Erlangen von dem Verständnis dafür, woher man kommt. Sondern hier findet eine biologistische Sichtweise ihren Ausdruck, die den Menschen letztendlich entmündigt und ihm jede Entscheidungsfreiheit abspricht. Der Verweis auf seine biologische Vorbestimmung entlastet den Menschen zwar von jeder Verantwortung für sein Leben, macht ihn aber zu einem einfachen biologischen Roboter, dessen Existenz sich von dem der Tiere nur durch seine höhere Produktivität unterscheidet. 

Die falschen Versprechen und vollmundigen Ankündigungen der Genetikforscher und –konzerne haben den allgemeinen Glauben erzeugt, der Mensch sei ein Produkt seiner Gene. „Was aus uns wird, bestimmen die Gene“, heißt es zum Beispiel bei Planet Wissen. Dass es bestimmte Erbkrankheiten gibt, und dass es beim Aussehen Familienähnlichkeiten gibt, ist bekannt. Daraus wird dann schnell abgeleitet, dass die zwielichtigen Verlautbarungen über die Entdeckung von Genen, die für Rheuma, für unsere Fürsorglichkeit, für Homosexualität, fürs Dickwerden, fürs Stottern usw. verantwortlich seien, richtig sein könnten. 

Die Erb- und Evolutionsbiologie hat jedoch in letzter Zeit immer mehr Erkenntnisse der Epigenetik zur Kenntnis nehmen müssen, die dieses einfache Genetikmuster erschüttern. Dieses Spezialgebiet der Biologie beschäftigt sich damit, wie Gene überhaupt wirken. Durch sogenannte Methylierungen werden Gene ausgeschaltet, so dass betroffene Gene keine Wirkung mehr entfalten können. Und diese Methylierungen können auch durch bestimmte Nahrung, durch bestimmte Umstände, Belastungen oder auch Medikamente verursacht werden. 

Schon länger liegen Forschungsergebnisse vor, dass solche epigenetischen Muster auch vererbt werden können. Bisher ging die Genetik davon aus, dass nur durch zufällige Mutationen der DNA in folgenden Generationen neue Merkmale entstehen könnten. 

Jörg Blech berichtet im Spiegel 32/2008 von Veränderungen des Erbgutes von Kindern durch Stresserfahrungen. Im Tierreich gibt es das bekannte Beispiel der Bienen, wo allein die Art der Fütterung der Tiere mit einem Honig-Pollen-Gemisch oder dem Gelée royale darüber entscheidet, ob eine fruchtbare Königin oder eine unfruchtbare Arbeitsbiene entsteht. Die Nahrung für die Arbeitsbienen führt zu einer starken Methylierung und zum Abschalten bestimmter Entwicklungsgene. 

Diese Erkenntnisse haben noch keinen Eingang in das Allgemeinwissen gefunden. Und so kann auch die oben genannte Sarah P. alle Gedanken auf die Erlangung von Informationen über ihr Erbgut konzentrieren. Der Verein „Spenderkinder“ spricht davon, dass das Gefühl, dass man die „Entstehung einem Kauf des väterlichen Erbmaterials“ zu verdanken habe, „belastend sein“ könne. Nur die Überbewertung der genetischen Veranlagung, das Gefühl, dass die Gene bestimmen, was aus uns wird, kann eine solche Obsession erzeugen. Wenn die Eltern „beichten“, man sei nur geboren worden, weil der Fruchtbarkeit des Mannes durch Einnahme bestimmter Medikamente aufgeholfen wurde, ist das dann auch so belastend?

Wenn die Epigenetik Beispiele zeigt, dass stark vernachlässigte Kinder zum Beispiel genetische Veränderungen erleiden können, die sie später zum Selbstmord führen (ohne damit sagen zu wollen, dass im Umkehrschluss alle Menschen, die Suizid begangen haben, vernachlässigt wurden), dann zeigt dies doch die viel größere Bedeutung des sozialen Vaters (der für die realen Lebensumstände mit bestimmend war), als die der DNA des leiblichen Vaters. 

Wer sich freiwillig zu einem von der DNA vorherbestimmten Wesen degradiert, braucht eigentlich nichts mehr, als eine gute Fütterung und gute Haltungsbedingungen.

jdm, 13.07.2013


top

Zur Homepage