Lesung über die Zukunft der Regionalsprache in Twente von Bert Groothengel, 25.08.2013 |
Twente ist eine Region im Osten der Niederlande, gelegen an der
Grenze zur Grafschaft Bentheim. Bei einer Fahrt über die gepflegten Dörfer erlebt man
eine leicht geschwungene harmonische Landschaft, die sich mit Wäldern und idyllischen
Flussläufen abwechselt, unterbrochen durch prächtige alte Bauernhöfe und altehrwürdige
Städtchen. Das Leben der Menschen in den Dörfern und Kleinstädten ähnelt dem in
unseren Ortschaften im Emsland. Sogar viele Traditionen und Gebräuche kommen dem
emsländischen Besucher sehr bekannt vor. So gibt es auch in Twente Schützenfeste und
eine Bauernhochzeit wird auf die gleiche Weise gefeiert wie im Emsland. Das in Twente
gesprochene Niedersächsisch ist dem bei uns im Emsland heimischen Platt fast zum
Verwechseln ähnlich. Allerdings hat man auch in Twente das Problem, dass die
Regionalsprache längst nicht mehr in allen Familien an die Kinder weitergegeben wird.
Auch dort fehlt es der Bevölkerung an dem nötigen Selbstbewusstsein und Stolz auf die
eigene Muttersprache.
Bert Groothengel war von 2002 bis 2007 Berater für Regionalsprache beim Van Deinse
Instituut in Enschede (Niederlande). Er setzt sich seit vielen Jahren für den Erhalt der
Regionalsprache in seiner Heimat ein. Im Jahre 2004 hat Groothengel eine bemerkenswerte
Rede zu dieser Problematik gehalten, in der er den Menschen vor Augen führt, warum sie
ihre Einstellung zu ihrer eigenen Muttersprache ändern müssen. Unser heimisches
Emsländer Platt ist in gleicher Weise bedroht, da die meisten Plattsprecher -bei uns
genauso wie in Twente- nicht den Mut aufbringen, es weiterzugeben an die junge Generation.
Ich habe daher den Vortrag von Bert Groothengel ins Deutsche übersetzt und an die
Verhältnisse im Emsland angepasst. Eine Lektüre zum Nachdenken, die man ruhig ausdrucken
und mehrmals durchlesen sollte. (Zintus)
Lesung über die Zukunft der Regionalsprache in Twente
Den Kindern nicht die zweite Sprache vorenthalten!
Jüngste Erhebungen haben ergeben, dass immer noch die Mehrzahl der Emsländer das
Plattdeutsche beherrscht. Allerdings wird es im häuslichen Bereich zu einem wesentlich
geringeren Prozentsatz auch verwendet.
Das Plattdeutsche hat nur dann eine Zukunft, wenn die Sprache an die Kinder weitergegeben
wird.
Aber wie macht man das am besten?
Ganz einfach: eine Person (z.B. ein Elternteil oder Großelternteil) spricht z.B. nur
Plattdeutsch mit dem Kind. Eltern die dies versäumen, nehmen ihren Kindern etwas
Besonderes: und zwar, dass sich in verschiedenen Situationen für verschiedene Sprachen
entscheiden können. Auf Platt würde ich sagen: Ih daut de Kinner to kott!
Plattdeutsch schlecht für die Schule?
Immer noch glauben viele Eltern, dass Plattdeutsch schlecht ist für die Leistungen in der
Schule und für die Entwicklung der sprachlichen Fertigkeiten. Ältere Menschen berichten
davon, dass sie früher Schwierigkeiten hatten, weil sie nur unzureichend Hochdeutsch
sprachen.
Hierbei sollte man allerdings nicht vergessen, in welcher Zeit diese Generation
aufgewachsen ist. In den vierziger oder fünfziger Jahren kamen Kleinkinder in den
Dörfern kaum mit der hochdeutschen Sprache in Kontakt bis sie zur Schule gingen.
Es gab kein Fernsehen, kaum Radio und die Spielkameraden auf der Straße sprachen alle
Platt. Dies ist mit der heutigen Situation nicht zu vergleichen!
In jeder Familie geben Fernsehen und andere Medien den Ton an. Die erste
Sprache beim Spiel ist Hochdeutsch und bei Beginn des ersten Schuljahres hat ein Kind
schon drei Kindergartenjahre hinter sich.
Sprachwissenschaftler propagieren eine zweisprachige Erziehung: Plattdeutsch und
Hochdeutsch. Sozusagen die Zweisprachigkeit als Muttersprache, denn dadurch
entwickelt das Kind ein viel ausgeprägteres Gefühl für Sprache und dementsprechend wird
es ihm später sehr viel leichter fallen, die dritte, vierte oder sogar fünfte Sprache
hinzuzulernen. Kleinkinder haben die angeborene Fähigkeit, Sprachsysteme voneinander zu
trennen. Wir Plattsprecher kennen diese Fähigkeit bei uns selber. Wir blicken die eine
Person an und sprechen automatisch Hochdeutsch und mit einer anderen automatisch Platt.
Etwas zum Nachdenken. In den vergangenen zwanzig bis dreißig Jahren ist die Anzahl der
Plattsprecher deutlich zurückgegangen. Wenn nun der Gebrauch des Plattdeutschen so
schlecht wäre für die schulischen Leistungen, dann müssten die Ausdrucksfähigkeit und
die schulischen Leistungen bei den heutigen Schülern sehr viel besser sein als vor zwei
oder drei Jahrzehnten. Wir wissen alle, dass dies nicht der Fall ist. Im Gegenteil, fragen
Sie ruhig mal die Lehrer Ihrer Kinder.
Im Jahre 2000 haben in den Niederlanden 150 Sprachsoziologen ein Manifest unterzeichnet,
worin sie für eine zweisprachige Erziehung plädieren, Regionalsprache und
Standardsprache. Auf das Emsland übertragen bedeutet dies: Plattdeutsch und Hochdeutsch.
Platt sprechen mit den Kindern? Der Geist ist willig,
aber...
Dat lehrt de Kinner wall up Straote, denken immer noch viele Eltern. Dann
könnte man ja genauso gut sagen, dass die Kinder Hochdeutsch ja in der Schule lernen.
Oder man geht noch weiter und sagt dann brauche ich den Kindern auch keine
Verhaltensregeln und Werte beizubringen, oder wozu bringe ich den Kindern
überhaupt noch etwas bei? Nein, wir wollen unseren Kindern natürlich so viel wie
möglich mit auf den Weg geben!
Sprache ist ein Teil der Erziehung. Zu dieser Erziehung gehört auch die Weitergabe des
kulturellen Erbes. Die Sprache unserer Region ist ein wichtiger, ja der wichtigste Teil
unseres kulturellen Erbes!
Platt sprechen? Diese unkultivierte Bauernsprache?
Es wird mittlerweile sehr viel geschrieben auf Platt. Mehr als früher. An sich ist dies
sehr positiv, allerdings fehlt es an guten Autoren. Viele Gedichte und Geschichten handeln
vom Leben auf dem Lande in der alten Zeit, von Dönkes und davon wie Opa kurz nach dem
ersten Weltkrieg die Oma rumgekriegt hat. Auf Karnevalsfeiern und Heimatabenden wird
unsere Regionalsprache immer weiter in die Ecke der in Bauerntracht gekleideten
Tollpatsche gedrängt. In plattdeutschen Sketchen und Theaterstücken halten dümmliche
Knechte den Telefonhörer im Jahre 2013 noch immer falsch herum. Das Positive daran: Platt
ist in dem Moment die benutzte Sprache. Das Negative: diese Tölpeleien schaden dem
Ansehen unserer Sprache. Platt wird dadurch immer mehr zu einer Klamauksprache degradiert,
die hauptsächlich zur Darstellung von ungebildeten, tollpatschigen Charakteren geeignet
ist. Die Sprache des Karnevals und der Büttenreden.
Glücklicherweise sind in den letzten Jahren aber auch sehr niveauvolle Werke zur
Aufführung gebracht worden. Man denke nur an die Theaterstücke von Thekla Brinker, wie
z.B. "Liek Maoket", "Kegen dat Vergeeten" und andere. Oder "Wech
van Tohuuse" von der Arbeitsgemeinschaft Plattdeutsches Theater. Um als Sprache und
Sprachgemeinschaft ernst genommen zu werden, braucht es noch viel mehr von dieser
Qualität! Wer traut sich?
Es ist fünf vor Zwölf - gewesen!
Es ist schon seltsam. Als Emsländer sind wir sehr stolz auf unser Emsland. Allerdings
sind die meisten von uns nicht gleichermaßen stolz auf unsere Sprache.
Beim Thema Identität spielen die Medien eine sehr wichtige Rolle. Vor fünfzehn Jahren
wurden die Bürgerradios aus dem Boden gestampft. Man erhoffte sich davon auch eine
verstärkte Präsenz unserer Regionalsprache in den Medien. Allerdings geschieht das viel
zu selten. Im Programm der Ems-Vechte-Welle findet sich eine einzige "Sendung auf
Plattdeutsch und Saterfriesisch" pro Woche! Sieht man sich das Programm des NDR an,
sieht es noch trauriger aus. Bei fünf Hörfunkprogrammen und einem TV-Kanal hat der NDR
pro Woche gerade eine einzige Stunde für die Muttersprache von mehreren Millionen
Menschen in seinem Sendegebiet übrig. Hinzu kommt noch täglich eine kurze
Morgenansprache von wenigen Minuten. Im NDR-Fernsehen tritt Plattdeutsch nur sehr
sporadisch in Erscheinung, meistens zu unmöglichen Sendezeiten, wie z.B. am
Sonntagvormittag.
Die Plattsprecher im Emsland und anderswo in Norddeutschland müssten täglich über
verschiedene Medien mit der Regionalsprache konfrontiert werden. Es könnte ja irgendwann
als normal empfunden werden, wenn ein Interviewpartner in einem Radio- oder
Fernsehinterview seine eigene Sprache spricht, anstatt sich im Gespräch mit der
Journalistin aus Hannover krampfhaft um ein lupenreines Hochdeutsch zu bemühen und sein
rollendes "R" zu verbergen. Man muss den Menschen klarmachen, dass eine Antwort
auf Plattdeutsch nicht schlechter ist als eine Antwort auf Hochdeutsch. Hier bedürfte es
vielleicht auch einer handfesten Kampagne für den Gebrauch der Regionalsprache in
offiziellen Situationen. Wir Plattsprecher sind die Problematik bis dato noch viel zu
unverbindlich angegangen. Eine handfeste, ja eine fordernde Haltung - das ist es was wir
brauchen, um den Verlust an Terrain und Prestige zugunsten des Hochdeutschen aufzuhalten.
Wo kommen wir denn hin, wenn wir uns mittlerweile beim Gespräch mit der Schule unserer
Kinder für den Gebrauch der eigenen, hier heimischen Muttersprache rechtfertigen müssen?
Es bedarf einer Emanzipation der Regionalsprache. Stolz müssen wir sein auf unser Platt,
anstatt uns dafür zu schämen!
Behörden und Schulen
Behörden und Bildungsträgern kommt eine wichtige Rolle zu bei dem Versuch, den Status
der Regionalsprache zu verbessern. An die Kommunen stellt sich folgende Frage: will man
nur symbolisch zeigen, dass man eine emsländische Kommune ist? Dann reicht ein kurzes auf
Platt gehaltenes Vorwort im Gemeindeblättchen. Oder will man sich als Gemeinde oder
Landkreis aktiv für den Erhalt unserer Muttersprache einsetzen? Dann muss mehr kommen!
Gemeinde- oder Kreistagssitzungen auf Plattdeutsch haben einen enormen Symbolcharakter.
Genau dadurch holt man unser Platt nämlich heraus aus jener Ecke der Bauerntölpel und
Karnevalssitzungen.
Die Gemeinden sind mittlerweile berechtigt, zweisprachige Ortsschilder aufzustellen. Sie
sollten davon Gebrauch machen, denn auch das fördert die Identität und führt dazu, dass
man mit der Regionalsprache konfrontiert wird. Praktiziert wird dies schon seit Jahren in
Ostfriesland und in der Grafschaft Bentheim.
Auch sollten die Rathäuser ihre Mitarbeiter dazu anhalten, den Bürger, falls gewünscht,
auch auf Plattdeutsch behilflich zu sein. Dies wird meistens sehr dankbar angenommen und
gibt der Generation der Eltern und Großeltern das Gefühl, dass sie den Kindern eine
wertvolle, nützliche Sprache mit auf den Weg geben.
Die Schule kann und will keine vollständigen Sprachkenntnisse vermitteln. Es bringt
jedoch schon viel, wenn im Unterricht beispielsweise ein plattdeutsches Lied gesungen oder
eine plattdeutsche Geschichte vorgelesen wird. Die Kinder kommen anschließend mit diesen
Dingen nach Hause, so dass sich die ganze Familie mit der Sprache beschäftigt. Ideal
wäre es, wenn die Eltern aktiv einen Beitrag der Schule zur Vermittlung des
Plattdeutschen einfordern. Angesichts der passiven Haltung der Emsländer zu ihrer eigenen
Muttersprache klingt das zwar illusorisch. Eine aktive Lobby bei Behörden und Schulen ist
jedoch unverzichtbar. Schulleitung und Lokalpolitiker müssen davon überzeugt werden,
dass dem Plattdeutschen mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.
Den Kindern nicht die zweite Sprache vorenthalten!
Natürlich gibt es in der Welt wichtigere Probleme, die gelöst werden müssen: Hunger,
Krieg, Terrorismus, Gewalt usw. Nein, man stirbt nicht, wenn kein Plattdeutsch mehr
gesprochen wird. Wenn es uns gerade in den Kram passt, sind wir sehr gut im Relativieren.
Den Eltern und Großeltern sollte aber eines klar werden: die Sprache UNSERER Heimat wird
verschwinden, wenn WIR sie nicht weitergegeben an die Kinder! Und dafür sind WIR
verantwortlich! Tun wir das nicht, nehmen wir unseren Kindern eine Sprache, in der sie
sich hervorragend ausdrücken könnten, oft auf eine viel schönere Weise als im
Deutschen. Es gibt derzeit sehr viele junge Leute zwischen zwanzig und dreißig, die es
ihren Eltern übelnehmen, dass man ihnen das Plattdeutsche nicht von Anfang an beigebracht
hat. Wir als Emsländer allein bestimmen, ob das Plattdeutsche in unserer Heimat erhalten
bleibt. Das geht nur, indem man einfach Plattdeutsch spricht! Zu Hause, auf der Straße,
beim Einkauf, mit Freunden, mit den Kindern! So einfach geht das. Wenn man will!
Ins Deutsche übertragen und anpasst an die Verhältnisse im Emsland von Hyazinth
Sievering, August 2013 mit freundlicher Genehmigung von Bert Groothengel, Hengelo (NL).