Die Corona-Krise ist eine soziale Krise
An der Kritik an den Anti-Corona-Demonstranten zeigt sich wieder – wie beim Aufstieg der AFD – die Hilflosigkeit von bürgerlich Liberalen und auch Linken, mit rechten Bewegungen argumentativ umzugehen. Stattdessen einigt man sich auf simple Beschimpfungen und Schikanen, die dann von den Richtern verhindert werden müssen.
Sogar der Deutschlandfunk, der sonst vorn bei dieser verfehlten Strategie dabei ist, ließ nach der Berliner Demo vom Wochenende den Kommentator Stephan Detjen, Chefkorrespondent von Deutschlandradio, zur Mäßigung aufrufen. Dabei kann man die Corona-Bekämpfung auch als eine soziale Frage betrachten und die Corona-Maßnahmen kritisieren, weil sie vornehmlich Repressionen darstellen und die durch Corona offen gelegten Schwachpunkte unserer sozialen Verfassung, wie z. B. überfüllte Klassen, oder schlecht bezahlte Beschäftigte und profitorientierte Ökonomisierung im Gesundheitswesen, nicht angehen. Die Corona-Krise wird genutzt, um Konzernen ungeniert Milliarden € an Staatshilfen zu überweisen, aber bei den viel gerühmten „systemrelevanten“ Arbeitern und Angestellten kommt nichts an.
Bei der AFD handelte es sich anfangs „nur“ um Kritiker des Euro, der angeblich die deutsche Wirtschaft schädige. Erst im Laufe der Zeit wurden diese „gemäßigten“ Kritiker herausgedrängt und spezifisch nationalistische Inhalte, arbeiterfeindliche Forderungen verbunden mit einer sozialen Demagogie traten in den Vordergrund. Dabei förderten die Medien durch eine inhaltlich schwache und auf persönliche Diffamierung begrenzte negative Berichterstattung über die AFD deren Popularität und deren inneren Zusammenhalt.
Bei den jetzigen Teilnehmern der Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen handelt es sich nicht durchweg um „Nazis“, sondern um viele aus kleinbürgerlichem Milieu, denen der Staat als Steuereinnehmer seit jeher suspekt ist und die sich selbst in ihrer persönlichen Entfaltung durch die Anti-Corona-Maßnahmen eingeschränkt sehen – sie wären also typische Mitglieder z. B. der Steuergewerkschaft. Hinzu kommen viele andere Motivationen, wie die immer genannten Aluhut-Träger – auch in vielen Fällen einfach die Sorge um die Demokratie.
Die demokratischen Bundestagsparteien haben fast unisono nur eine Beschimpfung der Demo-Teilnehmer anzubieten. Jedem, der leise Zweifel an einzelnen Maßnahmen der Corona-Bekämpfung äußert, wird sofort ein Aluhut aufgesetzt.
Dabei zeigt die Corona-Krise, dass Vieles, was jetzt ein besonderes Problem darstellt, eine Folge des Sozialabbaus der letzten 30 Jahre ist. Mit diagnosebezogenen Fallpauschalen (DRGs) wurden Krankenhäuser seit 2004 systematisch kommerzialisiert und unter Kostendruck gesetzt – mit verheerenden Folgen. An der Herausforderung durch die Coronakrise sind die Fallpauschalen gescheitert. Eilig musste im März ein (löchriger) Schutzschirm aufgespannt werden, um die Krankenhäuser vor dem Ruin zu bewahren. Zugleich stehen sie – als Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge – seit dieser Krise im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Eine wichtige kritische Forderung an die Bundesregierung wäre also die bedarfsorientierte Finanzierung der Krankenhäuser durchzusetzen.
In der Verkehrpolitik rächt sich jetzt die Orientierung allein auf das Auto. In den Städten wären jetzt Fahrradwege Gold wert. Mehr Bahnen und Busse ließen auch jetzt die Einhaltung des Abstandes zu. Prekäre Arbeitsverhältnisse, Werkverträge und ungesicherte Minijobs lassen keinen Gesundheitsschutz zu. Zu viele Kinder werden in zu kleine Klassenräume zu einer Maske verpflichtet. Pflegebedürftige werden in ihren Einrichtungen eingesperrt, weil zu wenig Personal eine vernünftigen Umgang mit den Vorsichtsmaßnahmen unmöglich machen. Die deutsche Pharmaindustrie ist nur an ihren Profiten interessiert, statt notwendige Forschungen betreiben zu können.
Die Corona-Krise hat die Löcherigkeit unserer sozialen Sicherung deutlich gemacht. Und hier eine Diskussion über Überwindung dieses Zustandes zu führen, hätte eine Dimension, die tatsächlich notwendig ist. Und an der sich viele beteiligen würden, die aus einem nicht definierten Unbehagen an den jetzigen Maßnahmen häufig das Falsche kritisieren.
Dabei ist es aber durchaus eines Gedankens wert, ob die Art und Weise, mit der die Maßnahmen beschlossen und durchgesetzt werden und auch allgemein akzeptiert werden, eine Gefahr für die Demokratie darstellen können. In Krisensituationen, wenn die Menschen nicht mehr im Sinne des Kapitals integriert werden konnten, wurde in kapitalistischen Gesellschaften immer wieder zu Repressionsmaßnahmen und Demokratieeinschränkungen gegriffen. Rund um uns herum befinden sich Länder mit rechten repressiven oder ausländerfeindlichen Regierungen (Ungarn, Polen, Slowakei, Dänemark, Österreich) oder starken rechten Bewegungen (Großbritannien, Italien, Frankreich, Spanien).
In den USA findet die Repression nicht erst seit Trumps Bekämpfung der Black-Lives-Matter-Bewegung statt, sondern auch unter Obama machte der Sozialabbau das Leben der Arbeiterklasse immer schwieriger (Ausnahme Obamacare). In Deutschland haben alle Bundesländer Polizeigesetze beschlossen, die den Demokratie-Grundsatz „Den Bürger vor dem Staat schützen“ umkehrten und den Staat vor dem grundsätzlich verdächtigen Bürger schützen sollen. Heute forderte die CDU schon wieder eine erneute Erhöhung der Strafen wegen Angriffen auf Polizisten.
Auch historisch hat Deutschland eine reiche Geschichte von durch die Konzerne gestützter Demokratiebekämpfung: die Sozialistengesetze des 19. Jahrhunderts, die Inhaftierungen von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg im Kaiserreich, ihre Ermordung durch ein Freikorps, der von den deutschen Konzernen Röchling, Haniel, Thyssen, Krupp, Siemens, Bosch, Moldenhauer, Borsig, Deutsche Bank, sowie von von Papen, Gustav Noske und Konrad Adenauer 1928 gegründete „Bund zur Erneuerung des Reiches“, der ein „drittes Reich“ forderte. Das die Nazis dann ja auch schufen, um die Arbeiterbewegung zu vernichten und den Weltkrieg zu beginnen.
Die Corona-Krise wurde nicht allein durch das Virus und seine Gefährlichkeit selbst ausgelöst, sondern eine Krise lösten erst die unzureichenden Vorbereitungen auf eine Pandemie und die jetzt erkennbar werdenden Fehlentwicklungen der Gesellschaft aus. [jdm]