„Spaziergänge“ sind gesetzeskonform
Der Begriff „Spaziergang“ diene den Demonstranten gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Epidemie der Verschleierung, dass „das Versammlungsrecht ausgehebelt werden“ soll, sagt der niedersächsische Innenminister Boris Pistorius. Seine Begründung: weil es sich bei den Spaziergängen um Versammlungen im Sinne des Versammlungsrechtes handele.
Und genau damit liegt er falsch. Eine Versammlung ist eine örtliche Zusammenkunft mehrerer Personen zur gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung.
Wenn für die Behörde erkennbar ist, dass durch die Versammlung die öffentliche Sicherheit und Ordnung unmittelbar gefährdet ist, kann sie die Versammlung verbieten. Die öffentliche Sicherheit war zumindest bei den „Spaziergängen“ im Emsland nicht gefährdet, d. h. auch die Abstandsregeln wurden offensichtlich eingehalten.
Ob es sich tatsächlich um eine Versammlung handelte, ist angesichts des Verhaltens der Teilnehmer, die sich einzeln, aber koordiniert im öffentlichen Raum bewegten, strittig. Es handelt sich bei den „Spaziergängen“ nicht darum, zu verschleiern, dass das Versammlungsrecht ausgehebelt werden soll, sondern um eine gesetzeskonforme Art, die eigene Meinung gemeinschaftlich öffentlich zu machen. Man kennt das sonst nur aus Diktaturen, wo Kerzen in Fenster gestellt werden, Töpfe geschlagen werden oder gleichzeitig gehupt wird.
Aber auch wenn es sich um eine Versammlung handeln sollte, wurde durch sie die öffentliche Sicherheit nicht gefährdet. Das wird sicher anders beurteilt werden bei den Demonstrationen in einigen Großstädten, bei denen es auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kam.
Die Polizei im Emsland, die diese Spaziergänge begleitet hat, hat sich also vollkommen richtig verhalten, aber ihr oberster Dienstherr Pistorius bricht mit seiner Einschätzung demokratische Übereinkommen. Mit seiner formalistischen Begründung gibt er zu erkennen, dass es ihm nicht wirklich um die öffentliche Sicherheit geht, sondern eher darum, Meinungen, die ihm nicht passen, nicht im öffentlichen Raum zu Wort kommen zu lassen.
Pistorius sorgt damit für die weitere Spaltung unserer Gesellschaft und gleichzeitig für den Abbau unserer Demokratie. Wir sollten uns angewöhnen, zu erkennen, dass es sich auch bei der Frage von Impfungen und der Maßnahmen gegen die Pandemie nicht um eine Glaubensfrage handelt, bei der nur drastische inquisitorische Maßnahmen gegen Ketzer helfen, sondern um eine politische Frage, bei der die Mehrheit zwar eindeutig zu sein scheint, der Minderheit aber eine andere Auffassung zugestanden werden muss. [jdm]