Am 14. Mai 2019 wurde mit großer Mehrheit vom Niedersächsischen Landtag das Niedersächsische Polizei und Ordnungsbehördengesetz (NPOG) verabschiedet. Damit tritt am 1. Juni 2019 ein Gesetz in Kraft, das alle Lehren, die die Demokraten nach dem Ende des deutschen Faschismus gezogen haben, ignoriert und dem ein autoritäres Grundverständnis zu Grunde liegt.

Und gestern wurde von Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) schon die nächste Sau durchs Dorf getrieben: ein bundesweites Messerverbot.

Eine Lehre aus dem Faschismus war, dass der Bürger vor einem übermächtigen Staat geschützt werden muss – ein Grundsatz, der im Übrigen auch bei der Entwicklung der englischen und der US-amerikanischen Demokratie grundlegend war.

Das NPOG möchte den Staat vor seinen Bürgern schützen, denen grundsätzlich mit Misstrauen zu begegnen ist und deren Grundrechte auch ohne einen Richtervorbehalt eingeschränkt werden können. Nicht die Menschen genießen Schutzrechte vor dem Staat, sondern der Staat scheint Schutz- und Präventionsrechte gegenüber den Menschen zu brauchen.

Diesem Angriff auf die demokratische Verfassung ist schon eine Reihe von Gesetzesverschärfungen voraus gegangen. Aus dem Versagen des Bundesnachrichtendienstes (BND) bei der NSA-Affäre (BND beteiligte sich an der systematischen Ausspähung der Bundesdeutschen durch US-Geheimdienste – aufgedeckt von Snowdon und Wikileaks) wurde nicht die Lehre gezogen, diesen Dienst an die Kandare zu nehmen, sondern er wurde mit mehr Geld und weiteren Befugnissen ausgestattet.

Im Strafgesetzbuch wurden die Widerstandsparafen eingeführt; jetzt ist jede Art von körperlicher Einwirkung auf einen Polizisten schon ein tätlicher Angriff. Wer dem Polizisten nicht die Wange hinhält, sondern die Hände zum Schutz der Wange erhebt, hat schon Widerstand geleistet und fährt für 3 Monate ein.

Polizeigesetze wie in Niedersachsen wurden vorher schon in Baden-Württtemberg unter Grün-Schwarz vom Grünen-Ministerpräsidenten Kretschmann eingeführt (Kretschmann: stolz, die Grenzen der Verfassung ausgereizt zu haben), in Hessen von der Regierung Schwarz-Grün, in Bayern von der CSU, in NRW von CDU, SPD, FDP und in Brandenburg von der SPD-Linke-Regierung.

Man sieht also: Geschichtsvergessenheit allenthalben. Vordergründig geht es immer um Terrorismusbekämpfung. Praktisch geht es aber um die Kriminalisierung jeder oppositionellen Handlung, die sich letztlich vor allem gegen den Widerstand gegen den Sozialabbau und die neoliberale Zurichtung des Staates wendet. In Frankreich werden die Antiterrorismus-Paragrafen, die dort vor fünf Jahren eingeführt wurden, gegen die Gelbwestenbewegung angewendet (u.a. Gummigeschosse haben einem Demonstranten sein Auge zerschossen).

Im NPOG wird zunächst die Gefahr so schwammig definiert, dass die Polizei immer eingreifen kann, wann sie will. Die dringende Gefahr ist laut §2 Abs. 4: „eine im Hinblick auf das Ausmaß des zu erwartenden Schadens und die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts erhöhte Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Sachen von bedeutendem Wert, deren Erhaltung im öffentlichen Interesse liegt.“ Straftaten werden durch die Definition des neu eingeführten Begriffs zu „terroristischen Straftaten“, die Grundrechtseingriffe erlauben. Jede Demonstration mit einer Blockade (Sit-In vor Atomwaffenlager, Baumbesetzung im Hambacher Forst, Sichfestketten an Gleisen bei Castor-Transporten. Verkehrsbehinderung durch Treckerkolonne, Mistabladen vor Ministerium in Hannover) kann als terroristischer Akt verfolgt werden. Sogar der Gesetzgebungs- und Beratungsdienst des niedersächsischen Landtags hält die Definition der terroristischen Straftat in mehrfacher Hinsicht für verfassungswidrig.

Vor allem der neu eingeführte Gefährder ist das Einfallstor, um jeden unbescholtenen Bürger Polizeimaßnahmen hilflos auszusetzen. Ein Gefährder ist derjenige, von dem die Polizei annimmt, er könnte eine Straftat begehen. Angesichts der schwammigen neuen Straftatbestände kann dies bei jedem konstruiert werden. Die Unschuldsvermutung wird umgedreht: Angeklagte müssen ihre Unschuld nachweisen.

Ein Gefährder darf vorbeugend „zur Verhütung von Straftaten“ bis zu 35 Tagen verhaftet werden. Ihm dürfen Aufenthaltsverbote auferlegt werden, ihn kann die Polizei am Arbeitsplatz zu einer „Gefährderansprache“ aufsuchen, ihm können Kontakte verboten werden, ihm kann eine Auslandsreise verboten werden, er kann mit einer elektronischen Fußfessel überwacht werden. Willkürlich Verhaftete können sogar in der Haft auf der Toilette per Video und Ton überwacht werden,

Die Behandlung der Gefährder im NPOG unterscheidet sich von der Schutzhaft der Nazis dadurch, dass nicht körperlich gefoltert wird.

Das Ziel der Maßnahmen einer Diktatur, durch willkürliche Grundrechtseingriffe eine allgemeine Einschüchterung von widerständigen Menschen zu erreichen, ist auch das Ziel des NPOG. Ein Gewerkschafter, ein Friedensdemonstrant, ein Klimaschutzaktivist wird sich überlegen, ob er es riskieren kann, seinen Arbeitsplatz durch eine 5-tägige Schutzhaft zu verlieren. Der Arbeitgeber wird dem Demonstranten nach dem Fernbleiben vom Arbeitsplatz durch die Polizeihaft vielleicht das Vertrauen und den Arbeitsplatz entziehen.

Weitere Highlights des Polizeigesetzes:

  • Geheimnisträger haben eine Auskunftspflicht gegenüber der Polizei
  • Polizei darf Versammlungen und öffentliche Räume per Video überwachen
  • Videoüberwachung des Verkehrs mit Erfassung der Kennzeichen durch technische Hilfsmittel
  • Polizei kann Bild- und Tonaufzeichnungen von jedermann im Umfeld des „Gefährders“ verlangen; auch im privaten Umfeld. Somit werden Freunde, Nachbarn und  Bekannte zum informellen polizeilichen Hilfsdienst (Erinnerungen an den Blockwart kommen auf).
  • Telefon und Computer können verdeckt abgehört und ausgelesen werden.
  • Polizei darf in Wohnungen filmen und abhören, wobei der Richterbeschluss nachträglich eingeholt werden kann.
  • Polizei darf sogar die Daten auf dem Computer des Verfolgten verändern: Ein Einfallstor für die Fälschung von Beweisen.

Im Juni 2018 wurde die neue Schutzhaft erstmals in Bayern angewendet. Etwa gegen einen Terroristen? Nein, natürlich nicht, sondern in Augsburg wurde im Vorfeld eines AFD-Parteitages ein Aktivist, der bis dato nur durch Stickern aufgefallen war, in Vorbeuge-Gewahrsam genommen. Bereits Tage vorher wurden Projekte und Räume der Aktivistinn*en der antirassistischen Augsburger Bewegung “Solidarische Stadt“ durchsucht und zahlreiches Equipment beschlagnahmt. Ein Aufenthaltsverbot wurde verhängt. AFD-freundliche Polizisten können jetzt Gegendemonstranten gleich einsperren – wie praktisch, wie infam!

Im NPOG wird die Polizei auch mit Tasern bewaffnet. Es handelt sich um „Elektroimpulsgeräte“, also Elektroschocker. Das Gerät schießt dünne Drähte mit Widerhaken in den Körper der Zielperson. Über diese Drähte wird der Stromstoß verabreicht.

Ende April 2019 wurden Polizisten in Frankfurt gerufen, um einem Diabetiker, der sich aufgrund seiner Erkrankung in einem verwirrten Zustand befand, das Leben zu retten. Er hatte eine Behandlung durch den Hausarzt verweigert und die Polizisten sollten helfen, ihn in die Psychiatrie einzuweisen. Statt den als stark übergewichtig beschriebenen Mann durch ihre erlernten Handgriffe ruhig zu stellen, benutzten die Polizisten ihre Elektrowaffe. Der Mann brach zusammen, übergab sich und starb ein paar Tage später.

Dieser Vorfall zeigt, wie die Militarisierung der Polizei und die Konditionierung der Polizisten, dass sie es nicht mit Bürgern, sondern potentiellen „Gefährdern“ des Staates zu tun haben, ihre Verhaltensweise verändern. Aus dem Freund und Helfer wird der Bewacher und Bekämpfer des Bürgers.

Gewalt und Gesetzesbrüche müssen bekämpft werden. Das bestreitet niemand. Und dass die Polizei zur Durchsetzung des Rechtes auch gelegentlich Gewalt anwenden muss, ist jedem klar.

Gewalt und ungesetzliches Verhalten erfordern jedoch soziale und politische Lösungen. Denn ihren Ursprung haben diese Verhaltensweisen dort: in der Verarmung, in der ungleichen Verteilung der Güter und Rechte, in den Wohnverhältnissen und in den Bildungsverhältnissen.

Die Militarisierung der Polizei macht das Verhältnis zu den Menschen angespannter. Sie führt zu mehr Gewalt, mehr Rechtsunsicherheit, zu überforderten Gerichten und zu volleren Gefängnissen. Und trotzdem zu einer angespannteren Sicherheitslage!

Ach und das Messerverbot? Wer denkt, das Taschenmesser zum Apfelschälen werde wohl so schlimm nicht sein und das Mitführen seines Schweizermessers werde ihn wohl kaum zum Straftäter machen: Wenn man gerade auf dem Weg zu einer Demonstration ist oder an einem Infostand steht oder an einer großen Versammlung teilnimmt und die Polizei gerade einen Straftäter braucht, ist das Mitführen des Taschenmessers plötzlich eine staatsgefährdende terroristische Tat. Jetzt schon! Pistorius’ Vorstoß in den letzten Tagen zum Messerverbot zielt darauf ab, aus jedem Bürger einen Terroristen zu machen. [jdm]