Krankenhausvorbehalt bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen teilweise verfassungswidrig
Gestern urteilte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts, dass die ausnahmslose Vorgabe, ärztliche Zwangsmaßnahmen im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus durchzuführen, verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist. Der Gesetzgeber ist zur Neuregelung spätestens bis zum Ablauf des 31. Dezember 2026 verpflichtet. Bis zu einer Neuregelung gilt das bisherige Recht fort.
Widerspricht eine Untersuchung des Gesundheitszustands, eine Heilbehandlung oder ein ärztlicher Eingriff dem natürlichen Willen eines Betreuten (ärztliche Zwangsmaßnahme), kann ein Betreuer in die ärztliche Zwangsmaßnahme einwilligen. Die Einwilligung, die der Genehmigung des Betreuungsgerichts bedarf, setzt nach der bisherigen Regelung unter anderem die Durchführung der ärztlichen Zwangsmaßnahme im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einem Krankenhaus voraus.
Dieser Krankenhausvorbehalt ist nach Auffassung des Gerichts mit den Verfassung unvereinbar, wenn Betreuten erhebliche Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit durch den Wechsel ins Krankenhaus drohen. Im konkreten Fall ging es um eine Betreute, die wegen fehlender Einsichtsfähigkeit die Einnahme lebenswichtiger Medikamente verweigerte. Aufgrund des körperlichen Zustands der Betreuten wäre eine Medikamentengabe gegen ihren Willen (mit richterlicher Genehmigung) auch im Rahmen des Heims möglich gewesen. Aber wegen der Gesetzeslage musste sie jedes Mal in ein Krankenhaus auf die geschlossene Station (mit richterlicher Genehmigung) eingeliefert werden, weil nur dort die Medikamentengabe erlaubt war. Für die Betreute war dies eine hohe zusätzliche Gesundheitsbelastung.
Die Entscheidung des Gerichts ist nicht einstimmig, sondern mit 5 : 3 Stimmen ergangen. Richter Wolff hat ein Sondervotum abgegeben. Daran ist ersichtlich, dass die bisherige gesetzliche Regelung nicht ohne Grund bestand. Sie sollte verhindern, dass Zwangsbehandlungen ohne zwingenden Grund durchgeführt werden, obwohl diese nur als Ausnahme möglich sein sollen.
Richter Wolff schreibt: „Durch die Einführung weiterer (auch noch so eng gefasster) Formen der Zwangsbehandlung wird nach meiner Einschätzung vielmehr eine Gefahr der Absenkung der materiellen Eingriffsschwelle begründet.“
Für das Bundesjustizministerium, das jetzt eine Gesetzesänderung formulieren muss, stellt sich eine große Herausforderung. Es muss das Gerichtsurteil umsetzen und dabei sicherstellen, dass die Möglichkeit ärztlicher Zwangsmaßnahmen gegenüber nicht einwilligungsfähigen Betreuten nur unter engen Voraussetzungen und als letztes Mittel besteht. Bisher wirkte allein die Notwendigkeit der Unterbringung im Krankenhaus dafür, dass die Praxis der Zwangsmedikation eng gehandhabt wurde. [jdm]