Der „anarchokapitalistische“ (=libertäre) argentinische Präsident Javier Milei bekam in Hamburg von einem neoliberalen Verein, der seine Vorstellungen von Wirtschaftsordnung am besten in dem Chile des Diktators Pinochet verwirklicht sieht, einen Orden. Dieser Verein bezieht sich auf den Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Hayek.
In seiner NOZ-Kolumne „Rest der Republik“ (vom 27.06.2024 und vorab im Newsletter) spielt Burkhard Ewert den scheinbar Naiven, der Friedrich Hayek gerade für sich entdeckt hat und begeistert von dessen angeblichen Freiheitsidealen ist.
Hayek gilt als einer der Theoretiker des Neoliberalismus. Schon dem traditionellen Liberalismus, der den Begriff der Freiheit im Namen trägt, ging es um die Freiheit des Kapitals, sprich des Eigentums und des Kapitalverkehrs, also des Marktes. Der Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts war die Bewegung des Bürgertums, das sich von den vielen Einschränkungen und Regeln des Feudalismus befreien wollte. Dazu gehörte auch der Kampf für die individuelle Freiheit der Unternehmer, die sich durch Standesregeln, Gilden und unzählige Zollgrenzen eingeschränkt sahen. Für die Entwicklung des Kapitalismus war die Freiheit der Arbeiter nötig. Denn nur wenn Arbeiter frei auf dem Arbeitsmarkt verfügbar waren, konnte ihnen in Form der Lohnarbeit ein Mehrwert abgeknöpft werden, den sich der Kapitalist aneignen konnte. Im Drang nach persönlicher Freiheit waren sich Bürger und Arbeiter einig, auch wenn das Ergebnis für beide sehr unterschiedlich aussah.
Als Hayek und seine Chicago-Boys, die Pinochet berieten, sich ihre Gedanken machten, war die Phase des ursprünglichen Liberalismus längst beendet. Der Markt war frei und die Arbeiterschaft hatte gemerkt, wie sich das auswirkt, wenn man von seiner Arbeit leben muss und nicht von den Zinsen des Kapitals. Es hatten sich Gewerkschaften und Arbeiterparteien gebildet, die Schutzrechte erkämpften, die vom Staat garantiert werden mussten. Mit der Sowjetunion als erstem sozialistischen Staat hatte sich eine sehr unterentwickelte Gesellschaft im Schnelllauf zu einem Industrieland entwickelt.
Hayek hielt diese Entwicklung für nicht zukunftsträchtig. Die schnelle Entwicklung der Industrie führte er allein auf die Marktmechanismen zurück. Die Preise auf dem Markt würden automatisch Produkte fordern, für deren Produktion dann auch das Wissen geschaffen werde. Solche Prozesse könne niemand planen oder vorhersehen.
Diese Auffassung ist heute weltweit ein Grundsatz des Neoliberalismus und liegt z. B. der ganzen Konstruktion der EU zugrunde. Man kann auch sagen, die Entwicklung der Gesellschaft wird allein vom Profitinteresse gesteuert. Hayek wollte, dass der Staat sich hier nicht mehr steuernd einmischt, aber der Staat sollte diese Ordnung schon absichern.
Die Arbeiterklasse kann an einer solchen Ordnung kein Interesse haben: denn dann gibt es keinen sozialen Wohnungsbau (wie wir in Deutschland sehen), keine öffentliche Gesundheitsvorsorge (wie wir in den USA sehen), keine öffentlichen Schulen, keinen erschwinglichen Wasseranschluss (wie wir in Chile sehen) und keinen Schutz des Klimas (wie wir weltweit sehen).
Für Hayek war die individuelle Freiheit kein Erfordernis der neoliberalen Ordnung. Für das Funktionieren seiner Idealordnung war das rationale Handeln der Menschen nicht erforderlich, weil ja niemand das Wissen haben kann, was wirklich notwendig ist – das weiß nur der Markt.
Infolgedessen waren auch die Forderungen der Arbeiterbewegung störend und falsch. Die Individuen sollten sich darauf beschränken, auf die Ordnung zu vertrauen und sich an die Traditionen zu halten. Der Staat hat die Aufgabe, für dieses Vertrauen zu sorgen. In Chile hat Pinochet dies dadurch getan, dass jede oppositionelle Wortmeldung mit Gefängnis, Folter und Verschwindenlassen geahndet wurde. Auch der krass libertäre argentinische Präsident Javier Milei ist derzeit dabei, die demokratischen Rechte der Arbeiter, der Gewerkschaften, aber auch der Frauen (beim Abtreibungsrecht) oder von Studenten zu beschneiden. Und was nicht direkt beschnitten wird, wird durch Unterlassung zerstört. So wird derzeit die Finanzierung der Universitäten einfach dadurch langsam eingestellt, dass ihre Mittel trotz der Inflation von 60% nicht erhöht werden.
Hayek als einen Apostel von Freiheit in der Ems-Zeitung zu verherrlichen, ist vollkommen abwegig. Immerhin zitiert Ewert Hayeks Satz: „Liberalismus ist also unvereinbar mit unbeschränkter Demokratie, genauso wie mit jeder anderen unbeschränkten Macht.“ Vielleicht kommt Ewert bei seiner Ferien-Lektüre von Hayeks Werken ja noch zu der Erkenntnis, dass Hayek eben doch eine unbeschränkte Macht sehen möchte, nämlich den Markt, und dass Demokratie und individuelle Freiheit für ihn gut verzichtbar sind. Wir können gespannt auf Ewerts Bericht von seiner Urlaubslektüre sein. [jdm]